Ode an die Berge: meine Versöhnung mit meiner (zweiten) Heimat


Ich war im Urlaub, coronabedingt "einfach in der Schweiz." In Tschlin, einem winzigen Bergdorf im Engadin, am Hang klebend auf einer kleinen Sonnenplattform, im Tal meiner Kindheit. 




Wenn ich am Morgen die Holzläden öffne, strahlt mir die Morgensonne direkt ins Gesicht, mein Blick streift über Hausdächer, liebkosend weil vertraut, zieht weiter, hinauf zu den massiv in die blaue Luft ragenden Bergen, die mir plötzlich wie das Schönste dieser Welt vorkommen jetzt, wo ich mich zum ersten Mal seit fast 20 Jahren wieder für längere Zeit davon umgeben weiss.







Berge bedeuteten lange Zeit Enge, Himmelsbegrenzung, Energieblockade und Engstirnigkeit. 
Berge waren in meiner Kindheit und Jugend bestenfalls vorhandenes Übel und "Schöne-Sonnenuntergänge-Verhinderer" (subjektiv), ich stellte mir immer vor wie hinter den Bergen, hinter denen sie für mich soeben unspektakulär untergegangen war, die Sonne immer noch schien, noch lange, um dann in den schönsten rötlich-violett-gelb-orangen Tönen unterzugehen, ich war fast neidisch auf die Menschen die da wohnten und diese Sonnenuntergänge geniessen konnten. Ja in der kindlichen Wahrnehmung fühlte ich mich benachteiligt und auf groteske Art von der Schönheit eines endlos weiten Himmels abgeschnitten, dessen Anblick ich bei Weitem favorisiert hätte.









Und dann kamen wir nun nach Tschlin, einem Dorf meiner Kindheit. Ich erinnere mich an steile Kartoffeläcker am Hang in gleissender Sonne, in denen wir stundenlang Kartoffeln zusammenklaubten, an Beine, die einschliefen, an den gebeugten krummen Rücken meiner Grossmutter, die schon Tausende und Abertausende von Kartoffeln geerntet hatte und eine liebevolle, stoische, ausdauernde Ruhe ausstrahlte, wie sie da mit ihrer Hacke in der Furche vor mir her hackte. Was sie aus dem Erdreich zutage förderte, sammelte ich zusammen und legte es in einen Korb. Keine gleichmässigen, runden Knollen, wie man sie im Supermarkt findet, sondern wunderliche, verschlungene, asymmetrische Formen, schwierig zu schälen aber wunderschön anzuschauen. 
Mit Tschlin verband ich diese Grossmutter, ihre Katze, "Patlanas" (sowas wie Fasnachtsküchlein, im Fett ausgebacken), schwarze süsse und rote saure Johannisbeeren und Stachelbeeren aus dem Garten und den grünen, glänzenden Kachelofen in der Stube, auf dem man wunderbar spielen konnte.

Jetzt, 30 Jahre später, sind es meine Mädchen, die jauchzend und lachend darauf herumklettern und ihn kurz nach der Ankunft kurzerhand als Burg erklären.

Wir machen einfache Ausflüge, runter zum Fluss, dem Inn, um zu spielen und zu bräteln. Die Luft flirrt und der Himmel ist von einem derart intensiven Azurblau, wie man es "zu Hause" niemals je erlebt. Verwunschene Wälder säumen den Weg zum Fluss, es ist eine wilde, andere Welt und ich tauche ein in Vertrautes und doch völlig Neues, Aufregendes, Wärme auf der Haut, laues Lüftchen im Haar, engadiner Gerüche in der Nase. Meine Sinne sind wach und in den letzten Wochen und Monaten so sehr verfeinert und geschärft durch das "Schichten abtragen und alten Ballast loslassen," dass mich dieser Anblick, noch vor Jahren einfach "normal und langweilig", fast in Ekstase versetzt.





















Ich erlebe live und immer wieder von Neuem, dass es die Art ist, etwas zu betrachten, die gute oder schlechte Gefühle hervorruft, der eigene Fokus und auch die Bewertung jeder Situation. Es ist mir endlich gelungen, die "Glücksbrille" aus dem verstaubten Fundus zu kramen, sie auf Hochglanz zu polieren und für ebendiesen Urlaub aufzusetzen. 
Gelingt es mir, die atemberaubende Schönheit dieser altvertrauten und in der Vergangenheit nicht sehr positiv konnotierten Berglandschaft wahrzunehmen, oder gräme ich mich, dass es "halt einfach weder Nordsee noch Atlantik noch indischer Ozean sind, die sich weit und glitzernd vor meinen Augen ausbreiten und die mir das ersehnte Gefühl von Weite, grenzenloser Freiheit, Durchatmen und Unendlichkeit hätten geben sollen?"

Ja, es gelingt. Und wie es gelingt! Durch den Fokus auf die Dankbarkeit (> Thankfulness) am Morgen und am Abend nehme ich plötzlich den Reichtum wahr, den diese Landschaft in ebendiesem Moment bietet, empfinde überschäumende Freude bei einem Anblick, der mir früher nurmehr ein gequältes Lächeln entlockt hätte. Durch das Füllebewusstsein (Vertrauen ins Universum??? und Herzschmerzwhisky, "der Schmerzkörper" und: all you have is now) schaffe ich es meist, auf Erholung zu fokussieren und das, obwohl den ganzen Tag lang "Kinderlärm, Abwasch und Kochen" fast wie zu Hause sich die Hand geben.

Das, wo wir Energie hineingeben, wächst. Warum soll ich mich auf den Mangel konzentrieren (zu wenig Zeit "nur für mich", kein Strandurlaub, keine Befriedigung des "Fernwehs") wenn ich mich auf die Fülle konzentrieren kann: immenser Reichtum der Landschaft, kleine Momente des Glücks beim Kuchenessen und Kaffeetrinken in der Sonne...







...beim Bräteln und beim Flussplanschen (auch wenn es nicht der warme indische Ozean ist), beim Anblick der ewigen Berge in der Morgensonne, beim Fotografieren der Tschliner Kirche in einer ganz besonderen Gewitterstimmung... und so am Ende das Gefühl habe, durch diesen Urlaub reich beschenkt zu sein und trotz allem sehr erholt und tiefenentspannt nach Hause zurückkehre?
















Wunder und Schönheit sind überall. Ja, mal wieder eine Binsenweisheit oder? Doch mein Blick ist geschärft, mein Fokus ein anderer, ich erlebe tiefer und umfassender, selbst die kleinsten Dinge des Alltags lösen nie gekannte Glücksgefühle aus. 
Oder, wie es mir gerade im facebook über den Weg lief: 





Es gibt NICHTS in dieser Welt, das dir Glück verheissen und geben könnte, wenn du es nicht in deinem Innern aktivierst. Und umgekehrt, wenn du in deinem Inneren Glück generierst, werden dich viele äussere Dinge plötzlich glücklich machen.
Ich glaube auch, dass mein wachsendes Bewusstsein über meinen inneren und äusseren Reichtum mich auch den Reichtum in der Natur und in meiner Lebenswelt viel leichter und bewusster wahrnehmen lässt.









Nein, es ist nicht die Riviera und auch nicht die Toskana, nicht einmal die "French Riviera," sondern einfach nur Tschlin.
Doch ich habe das Dorf völlig neu entdeckt, ins Herz geschlossen, mich versöhnt mit einem Teil meiner Adoptionsgeschichte und mit einer Landschaft, in die ich wider Willen hineingepflanzt worden war. Mich versöhnt mit einem Tal, von dem ich fast 20 Jahre lang nur weg wollte. Live erlebe ich einmal mehr, wie sehr es mein "Kindheitshologramm" war, das mich so betrachten und fühlen liess.
Es ist nun, nach fast 40 Jahren, doch noch zu einem Stück "zu Hause" geworden, nachdem ich mich so lange fremd und nicht wirklich zugehörig gefühlt hatte.
Ja, ich bin heute eine Andere als damals. 
Es ist ein sehr besonderes, fast magisches Gefühl, für das mittels Worten nur Annäherungen möglich sind.

Die Bergenergie erfüllte mich diesmal mit Staunen und einer nie gekannten Dankbarkeit für dieses massive Symbol der Ewigkeit und Behäbigkeit, Berge "sind", sie werden mich überleben und meinen Töchtern wieder eine Kulisse für deren Wahrnehmungswelt bieten. 
Und waren sie noch in meiner Kindheit begrenzend und behindernd, sind sie jetzt behütend in ebendieser Behäbigkeit und gleichzeitig Sinnbild für eine Welt, die nur so lange "einfach, klein und begrenzend" ist, wie ich sie auf diese Art betrachte.

Und selbst Sonnenuntergänge Marke "Bergwelt" können eine unglaubliche Schönheit entwickeln...














...oder? 💕


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alle Fotos Tschlin, Engadin, Graubünden, by SelinaDacy

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