Adoptiveltern

Wenn es um Adoption geht und ich über meine leiblichen Eltern ganze Artikel schreibe, wäre es unvollständig, wenn ich nicht auch über meine Adoptiveltern schreiben würde.

Das ist gleichzeitig der Clinch, das Spannungsfeld, in dem wir uns ständig bewegen: wenn ich traurig bin über meinen Verlust, verletze ich dadurch meine Adoptiveltern, die sich doch solche Mühe geben, die alles geben damit es mir gut geht.
Ein fast unlösbarer Konflikt, den ich selbst jetzt beim Schreiben wieder spüre, doch längst nicht mehr in dem Ausmass, wie das früher der Fall war.

So gerne möchte ich euch, die ihr Adoptiveltern seid, sagen: die beiden Dinge, die beiden Geschichten müssen nebeneinander existieren dürfen und nehmen euch nichts weg! 

Sie nehmen euch nichts weg!!!

Ihr habt euren Job so gut gemacht, auch wenn wir traurig sind. Auch wenn wir Sehnsucht haben. Auch wenn wir die leiblichen Eltern immer irgendwie vermissen werden. Ihr wart es, die getröstet, beschützt, ernährt und geführt habt, ihr wart es, die uns ein zu Hause, Geborgenheit und eine schöne Kindheit ermöglicht habt. 
Das ist die andere Seite, und die existiert, genauso wie die Seite der bodenlosen Traurigkeit existiert. Bitte lasst uns den Raum zu trauern, im Wissen, dass ihr alles menschenmögliche getan habt, alles, was in eurer Macht stand, alles, wozu ihr das Wissen hattet. 




Wenn ich "Mama" denke, kommst du mir in den Sinn, Adoptivmama. Nicht meine leibliche Mutter. Selbst nach der ganzen Verarbeitung ist sie fern, immer noch gesichtslos, die kleine indische Frau die mich geboren hat. 
Es geht um das "davor" und das "danach". Im Leben eines jeden adoptierten Menschen gibt es eine Zäsur. In jedem. Egal in welchem Alter das stattgefunden hat. Sei das Kind mit zwei Tagen in einen Strassengraben gelegt worden, die Mutter bei der Geburt gestorben oder das Kind mit drei, sieben, zehn Monaten zur Adoption freigegeben worden. Es gibt dieses "davor", es gibt den Bruch, der darf nicht wegdiskutiert und auch nicht mit doppelter Anstrengung von Seiten der Adoptiveltern zugedeckt werden. 
Jeder Verlust hat das Recht betrauert zu werden. Jeder. Und wir haben einen Verlust erlitten.
Aber das schmälert eure Leistung nicht!!! Das schmälert eure Liebe nicht und auch nicht die Rahmenbedingungen, die ihr für uns geschaffen habt!
Das ist so wichtig zu begreifen. Soviel Leid und Schmerz könnte gelindert und schon in jungen Jahren abgefangen und verarbeitet werden, wenn dies einfach einen Platz hätte. 
Natürlich reagiert nicht jedes Kind gleich. Nicht jedes Kind ist traurig bzw. zeigt das aktiv. Ich selbst habe nicht "getrauert" als Kind. Ich habe mich zurückgezogen. Ein anderes rebelliert. Noch ein anderes ist überangepasst. Die Erscheinungsformen variieren. Der Ursprung ist derselbe. Wir sind entwurzelt und haben einen Verlust erlitten.

Wenn ich "Bap" denke kommst du mir in den Sinn, Adoptivbap. Nicht mein leiblicher Vater, der so lange Zeit lediglich ein Wort war auf einem weissen Papier: "Unbekannt". Seit der Verarbeitung und Heilung meiner Vaterwurzeln ist er mir näher gerückt. Die beiden leiblichen Eltern haben einen festen Platz in meinem Herzen, da gehören sie hin, da müssen sie sein, wo sie so lange Zeit nicht waren. Aber ihr seid real, ihr habt mir eine Kindheit in der freien Natur, mit unzähligen wunderschönen Erlebnissen und berührenden, bleibenden, prägenden Ritualen geschenkt, ihr macht einen Teil meiner Welt aus, mit euch interagiere ich, mit euch bin ich "Familie". Ihr habt mir "Familie" ermöglicht, auf die bestmögliche Art. Ihr habt eure eigene Geschichte. Und eure Verletzungen, Traumata, Ängste und Zwänge, und diese interagieren natürlich mit dem Adoptionstrauma. Aber ich weiss, dass ihr euer Bestes gegeben habt. Auch dies darf gefeiert werden. Ihr seid die Grosseltern meiner Kinder. An euch werden sie sich erinnern. Nicht an meine leiblichen Eltern irgendwo im fernen Indien. 

Ja, ich bin dankbar. Ich bin euch aus tiefstem Herzen dankbar für das, was ihr mir gegeben habt. 
Aber es ist eine andere Dankbarkeit als in meiner Kindheit. Sie ist vom Zwang befreit. Von den Schuldgefühlen. Ich kann heute über meine leiblichen Eltern schreiben und gleichzeitig feiern, was ich alles von euch geschenkt bekommen habe. Ich kann heute dankbar sein, in einem Land wie der Schweiz "gelandet" zu sein und gleichzeitig darüber schreiben, wie ich mich nicht ganz zu Hause, nicht ganz verwurzelt fühle, weder in Indien noch in der Schweiz. 
Ich bin indische Schweizerin und schweizerische Inderin. Ich bin Tochter und Adoptivtochter. 
Und ja, gerade kürzlich habe ich über die Versöhnung mit meiner Heimat geschrieben, in die ich "verpflanzt" worden bin, auch dieses Wort nehme ich heute einfach so in den Mund, im Wissen, dass ich euch dadurch nichts wegnehme. 

Der Zwiespalt wird wohl immer irgendwie bleiben. Er ist Teil unserer Biografie. Aber ich kann den Begriff "zu Hause" neu definieren, wenn ich die Adoptionswunde geheilt habe, ich erlange Souveränität und kann wählen, wo ich vorher eher vor beiden Orten geflüchtet bin und mich weder irgendwo zugehörig noch zu Hause gefühlt habe. 
Und es ist eben nicht "entweder-oder", sondern "sowohl als auch". 

Sowohl Berge und Inn, als auch Palmen und indischer Ozean.










Sowohl Semmelknödel als auch Malai Kofta, made in Palolem Beach.







Ich habe zwei Heimaten. Und ich habe vier Eltern, und mein Herz ist gross und ich liebe euch unendlich und es ist für euch alle Platz. Wir sollten uns nicht entscheiden müssen, für euch und damit gegen sie, oder umgekehrt.
Es hat alles Platz. Und ihr habt es so gut gemacht.

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