Sonnenuntergangsspaziergang und die Sache mit der Realität


Ich liebe Sonnenuntergänge. Kitschige, spektakuläre, aussergewöhnliche und gewöhnliche. Auf Instagram und Facebook oder im Google findet man tausende, wenn man entsprechend danach sucht.
Ich weiss ja nicht ob es dir auch (manchmal) so geht: wenn ich durch Instagram scrolle, und diese intensiven, unnatürlichen Farben sehe, nicht nur bei Sonnenuntergängen, sondern so gut wie bei allen Bildern, frage ich mich mittlerweile fast automatisch, wie das wohl in Wahrheit ausgesehen hat. Blasser, sicher. 
Ich jage auch manchmal einen Filter über meine Instagramfotos. Wie wir alle. Oder drehe ein bisschen an der Sättigung, der Helligkeit oder dem Kontrast. Dabei versuche ich aber lediglich, das was in meinem Auge schön ist, noch etwas mehr zur Geltung zu bringen. 
Tun das alle? Was sieht wohl jemand, der ein bis zur Unkenntlichkeit gefiltertes Bild hochlädt?
Ich muss gestehen, mein Auge ist manchmal ein bisschen müde von diesen unnatürlichen Farben. Damit will ich nun echt niemandem auf den Schlips treten oder gar verurteilen und mich über andere erheben. Wir alle Retuschieren aus einem bestimmten Grund, und der ist mit Sicherheit nicht bei jedem derselbe. Aus einer bestimmten Perspektive macht es ja auch einfach Spass, einem Bild einen "anderen Anstrich" zu verleihen, herumzupröbeln, mit Farben zu spielen.
Es ist eher die schiere Masse. Und dass es fast nur noch solche Bilder zu sehen gibt.
Fast schon würde ich es begrüssen, wieder mehr echte, halt blassere und weniger hervorstechende Bilder zu sehen. Es hat für mich ein bisschen eine Parallele zum Beispiel zur Weihnachtszeit, die mit viel leckerem, aber schwerem, süssem, fettigem Essen angefüllt ist (sicher nicht bei jedem von euch, klar). Nach Weihnachten habe ich das intensive Bedürfnis, wieder einfache, pure, "gesunde" Sachen zu essen. Dem Übersättigungseffekt etwas entgegenzusetzen, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen.
Warum photoshoppen wir alles, bevor wir es hochladen? Ist die Realität nicht mehr spektakulär genug? Haben wir das Gefühl, dass unsere Bilder sonst untergehen, in der Flut von den Bildern der "Mitstreiter", dass sie blass wirken und deshalb nicht geliked werden? 
Was versuchen wir damit, was produzieren wir damit? Eine Annäherung an die Realität? Eine Wunschvorstellung der Realität? Eine Eichung unseres Auges auf immer noch intensiver, noch überwältigender, noch strahlender? 

Nur, was ist in diesem Fall die Realität?

Niemand von uns nimmt die Welt und die Realität auf die gleiche Art wahr. Unsere Sinnesorgane und unser Gehirn übersetzen die Eindrücke, die von aussen kommen, in Farben, Töne, Gerüche, Geschmäcker. 
Man kann auch noch weiter gehen. Je nach Vorwissen, auch Vorurteilen, Erlebnissen und Biografie, und auch rein physischer Beschaffenheit unserer Sinnesorgane, nehmen wir alle die Umwelt ganz verschieden wahr, wir sehen nicht nur andere Farbnuancen als andere Menschen, fühlen, schmecken, riechen und hören anders, sondern wir sehen in ein und derselben Situation auch meist nicht dasselbe und fokussieren auf teilweise grundlegend verschiedene Dinge.

Ich versuche, immer und immer wieder mir dies bewusst zu machen, vor allem wenn ich mit jemandem nicht gleicher Meinung bin, oder auch Gespräche verfolge, wo zwei "aneinander vorbeireden". 
Und immer wieder merke ich, dass es vor allem diese eigene Wahrnehmung ist, die uns manchmal nicht erlaubt oder erschwert zu erkennen, was der andere genau meint. Wir argumentieren aus unserem Film heraus. Aus unserem Hologramm. Und wir haben ja nun eine Idee davon, wie sich dieses Hologramm zusammensetzt. Aus alten Verletzungen, Kindheitsprägungen, Konditionierungen, Mustern und Glaubenssätzen, "wie die Welt ist." Unser Gehirn setzt hereinkommende Eindrücke immer in Bezug zu Eindrücken aus unserer Vergangenheit. So oft haben wir das Gefühl "aber das ist doch logisch", "das ist doch offensichtlich", "das weiss doch jeder" und "warum siehst du das nicht"?
Doch das Hologramm des Gegenübers ist ein ganz anderes. Er sieht die Welt fundamental anders.
Sätze wie:
"In was für einer Welt lebst du eigentlich?"
"Lebst du in einer Seifenblase?"
und Ähnliche haben für mich einen ganz anderen Stellenwert bekommen, seit ich mich auf diesen Weg begeben habe.
Ja, tatsächlich sollten wir vielleicht gerade den ersten Satz viel öfter wörtlich nehmen, und in uns Neugier generieren, Neugier auf die Welt des anderen, auf seine Sichtweise, uns überraschen lassen und dadurch unser eigenes Bild von "der Welt" erweitern, anstatt darauf zu beharren, dass die eigene Weltsicht doch "die Richtige" und sowieso "die einzige ist, die es gibt". Vielleicht müsste man sogar präziser von "den Welten" sprechen. 
Jeder handelt und spricht aus "seiner Welt heraus."
Es erschliesst sich mir so auch immer mehr, dass es viele verschiedene Meinungen geben kann und dass SIE ALLE WAHR SIND! Es sei denn, es handelt sich um Naturgesetze, messbare und für allgemeingültig erklärte und wissenschaftlich abgesicherte Daten. Doch selbst die Wissenschaft erweitert sich ja ständig, lernt neu dazu, muss altes Wissen revidieren und neu generieren, gerade in der Quantenphysik, aber auch in der Neurowissenschaft und in anderen wissenschaftlichen Bereichen tat sich in den letzten Jahren enorm viel.

Nicht zuletzt ist auch dies ein Aspekt, der mir solche Freude bereitet beim Schreiben dieses Blogs. Es ist eine Möglichkeit, dich, liebe Leserin, lieber Leser, daran teilhaben zu lassen, wie ICH die Welt wahrnehme. Wie ICH die Dinge sehe, die ich dabei bin zu lernen, was ich daraus mache und auf welche Art ich sie weitergebe. Und ich weiss dass viele Menschen die Dinge anders sehen, anders interpretieren und anders wahrnehmen, und das ist völlig in Ordnung.
Und deshalb kann es auch völlig in Ordnung sein, wenn jemand in seiner Story oder auf seinem Blog nur retuschierte Bilder hochladen will.


Jetzt habe ich einen etwas grösseren Bogen gespannt und komme zum Ursprungsziel dieses posts zurück:

Ich habe gestern einen der spektakulärsten Sonnenuntergänge erlebt, die ich je gesehen habe. Und ich habe in 39 Jahren doch schon einige gesehen. Mächtige, gewaltige, atemberaubende und überwältigende an verschiedenen Stränden; "normale, everyday-Sonnenuntergänge" hinter Hausdächern, und zuletzt gerade herzerwärmende in den Bergen. Und natürlich hunderte auf Instagram, bis zur Unkenntlichkeit gefotoshopt.

Deshalb hier, ganz bewusst, komplett unbearbeitet, mein Sonnenuntergangsspaziergang:

















































Ich hoffe du hattest beim Betrachten genauso viel Spass wie ich beim Fotografieren und geniessen.
Es ist meine Kamera, mein Winkel, den ich gewählt habe, um das für mein Auge Bestmögliche einzufangen. Es wäre für mich unglaublich spannend, zu wissen, wie dein Auge meine Bilder wahrnimmt. Das wird nie möglich sein, selbst wenn wir darüber sprechen, ist es nur eine Annäherung, aber das macht auch nichts.

Diese Bilder hätten auch zum folgenden post gepasst (Kleine feine Wunder sind überall). Denn für mich war dieser Sonnenuntergang ein kleines Wunder. Aber er soll für sich stehen, und für sich wirken.

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