Runde 55, die finale Verarbeitung der Verlustangst
Für Hartgesottene. Ich wünsche eigentlich niemandem, dass er/sie die Verlustangst, oder die Bindungsangst, oder eine andere Angst, die mit unserem Adoptionstrauma zusammenhängt, auf diese Art verarbeiten muss.
Ich glaube, nur dadurch, dass ich mich schon über längere Zeit in dieser Krise befand, schon einiges durchgestanden und überlebt hatte, war ich fähig, diese krasseste aller Hürden zu nehmen.
Naja, und irgendwo habe ich gelesen, dass das Leben einen dann mit der Verarbeitung konfrontiert, wenn man stark genug ist dafür.
Wow. Okay. Zwei, drei, vier Wochen lang musste ich da durch. Der Wahnsinn.
Die konzentrischen Kreise, in denen Erkenntnisse in mich hineinsackten, bezogen sich auch auf die Art und Weise, wie ich immer mehr zum harten Kern, zur grössten Angst, zur grössten Wunde in mir vordrang. Dabei war es eher ein passiver denn ein aktiver Prozess. Ich wurde dahin geschubst. ES schubste mich. Ob ich wollte oder nicht.
Der Auslöser?
Der vorübergehende Verlust eines lieben Menschen.
Die äussere Situation.
Und mit einer Urgewalt holte sie natürlich wieder eine innere Situation hoch, Verlustangst in der Potenz, und die schiere Wucht dieses Schmerzes haute mich fast um. Hatte ich noch während der Verarbeitung meines Vaterthemas das Gefühl zu versinken in einem Schmerz gross wie der indische Ozean, war es jetzt, als würde ich gehäutet. Bei lebendigem Leib. Tagelang. Der Schmerz war von einer solchen Intensität, dass ich zuweilen fast wie von Sinnen war.
Der Schmerz des Babys, das verlassen wird und nicht weiss wie ihm geschieht.
Die Verlustangst flog mir nur so um die Ohren. Nistete sich ein unter meiner Haut und schlitzte sie von innen her auf. Brannte. Quälte mich.
Ihr fragt euch vielleicht, warum ich solche Schmerzwellen immer so treffsicher mit dem Adoptionsthema in Verbindung zu bringen imstande war. Es war, denke ich, Intuition. Oder für euch, die ihr selber Mütter seid, vielleicht vergleichbar mit der Unterscheidung zwischen Vorwehen und echten Geburtswehen. Man merkt es einfach. Man WEISS es einfach. Der Unterschied ist so drastisch.
Aber natürlich braucht es dann auch psychologisches Wissen, um zu wissen wie man mit diesen Traumaverarbeitungswehen umzugehen hat, damit sie einen nicht wegreissen und verschlingen. Und dieses hatte ich mir über die Jahre angeeignet.
Auch hier wusste ich also wieder ziemlich intuitiv, dass dieser Schmerz viel zu massiv war, um etwas mit der aktuellen äusseren Situation zu tun zu haben.
Und wieder eine Welle, und wieder versuchte ich sie anzunehmen, versuchte ich einfach ja zu sagen auch wenn sie mich fast umbrachte, fortspülte, niederriss, versuchte ich offen und weich zu bleiben und die Welle zu surfen.
Der Höhepunkt war an einem Sonntagabend.
Folgendes vielleicht nicht nachmachen.
Ich verzweifelte fast, meine Kinder waren gerade nicht da, und ich hatte das Gefühl in meiner Wohnung zu ersticken. Also ging ich einfach raus. Es schüttelte mich. Tränenblind fanden meine Füsse den Weg, den ich so oft schon gegangen war, doch stets bei Tag und noch niemals bei Nacht!
Es war mir egal.
Der Regen peitschte mir ins Gesicht, es wehte und die Bäume knarzten und knackten im heftigen Wind.
Ich lief da im Sturm herum, der an meinen Haaren zerrte, über mir jagten schwarzgraue, regenschwangere Wolken am Himmel dahin, sturmgetrieben auch sie, meine eigene Stimmung untermalend, wiederspiegelnd, potenzierend, und ich schrie meinen Schmerz hinaus in die Nacht.
Nie hätte ich auch nur geahnt, wieviel Schmerz da ein Leben lang in mir eingeschlossen gewesen war.
Erst im Nachhinein und am Telefon mit einem Freund, der versuchte mich aufzufangen, wurde mir die potentielle Gefahr bewusst, in die ich mich begeben hatte. Deshalb, nicht nachmachen.
Im Rückblick war das der absolute Tiefpunkt meiner ganzen Krise. In dieser Zeit dachte ich oft, es gehe nicht mehr weiter. Aus dieser Dunkelheit würde ich nie wieder herausfinden. Der Schmerz war so gross, und ich so klein.
Ich hatte keine Kraft mehr.
by SelinaDacy |
Doch da waren ja meine zwei kleinen Töchter. Und trotz aller persönlichen Verzweiflung und dem vorübergehenden kompletten Versinken in meiner Traumaverarbeitung wusste etwas in mir stets, dass ich da sein würde. Da bleiben würde. Und weitermachen würde.
Für sie.
Koste es was es wolle.
Dass ich ihr Anker, Hafen, Leuchtturm und Rettungsboot in einem war und auch oder gerade deswegen mich durch diese Horrorzeit kämpfen musste und nicht untergehen durfte. Der Katalysator war dabei wieder die felsenfeste Gewissheit in mir, dass ich ihnen nach der Bewältigung dieses Schmerzes eine bessere Mutter würde sein können als je zuvor. Mit mehr Kraft. Mehr Stärke, mehr Ausstrahlung und Authentizität!
Eben mein bestes ICH!
Mein Navi in diesen Horrorwochen war das Wissen, wie ich mit diesem Schmerz umzugehen hatte.
Mich nicht gegen ihn stellen. Nicht davonrennen. Nicht betäuben. Sondern ja sagen. In ihn hineingehen. Ihn fühlen.
Annehmen.
Im Moment bleiben.
Ich schaffte das, weil alle vorherigen Verarbeitungsrunden wie eine Art Trainingsrunden gewesen waren. Trockenübungen. Für die finale, schwierigste aller Challenges.
Etwas möchte ich noch anfügen. Ich schreibe dies alles bei Gott nicht, um auf irgend eine Art meine Krise auszuschlachten.
Auch nicht um euch da draussen mit schrecklichen Details meiner Biografie zu überschütten.
Ich teile es mit euch aus drei Gründen:
1. Um vielleicht dir, der oder die du auch adoptiert bist, eine Brücke zu bauen zu deiner eigenen Traumaverarbeitung.
2. Um zu zeigen, dass man das überleben kann. Dass man auch eine heftige Krise überleben kann. Im Wissen dass es sich LOHNT!
Ich habe mich oft gefragt in dieser Zeit, was denn das Drehmoment ist zwischen "in der Krise stecken bleiben" und "sie als Chance nutzen und gestärkt daraus hervorgehen." So viele Menschen bleiben stecken. Wissen einfach nicht mehr wie weiter. Versinken in der Dunkelheit.
Ich glaube, genau an dieser Stelle, am tiefsten Punkt, braucht es immensen Mut. Und zwar den Mut, einmal ganz genau hinzuschauen. Hinzufühlen. Die volle Verantwortung für sich selbst zu übernehmen und anzuerkennen, dass man kein Opfer ist, auch wenn es noch so einfach ist, jemandem die Schuld zu geben an der Misere. Den Mut, sich dem Schmerz zu stellen. Nicht in ihm zu versinken und ihn fortan als Entschuldigung zu missbrauchen. Als Entschuldigung, um in der Opferrolle zu verharren. Um sich bemitleiden zu lassen. Dies ist bequem. Wir sind es gewohnt zu jammern, jammern hat in unserer Gesellschaft einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert, aber es bringt dich keinen Millimeter weiter.
Konfrontation bringt dich weiter. Lässt dich wachsen. Lässt dich zu deinem besten Ich werden.
Du musst aber erkennen, dass du selber die Gestaltungsmacht besitzt. Du hast dich in diese Krise hineinmanövriert, und du allein kannst dich da wieder herausarbeiten. Die Krise will dir etwas sagen, sie will dir nicht schaden, sie will dir zeigen, wo du auf dem Holzweg warst.
Das Allerwichtigste ist aber das Wissen, wie man damit umgehen muss, ohne dieses Wissen wäre ich untergegangen und darum erwähne ich es noch einmal:
Der Schmerz ist nicht das Ende! (siehe auch post "Die Wurzeln unseres Baumes sind unsere leiblichen Eltern, ob es uns passt oder nicht")
Eva-Maria Zurhorst:
"Der Schmerz ist nicht das Ende. Wenn wir bereit sind, ihn wirklich zu fühlen, führt er uns direkt hinein in den Augenblick. Jeder Augenblick ist wie ein Tor. Je mehr Bezug wir zu ihm haben, desto eher öffnet sich dieses Tor, desto mehr fühlen wir uns verbunden und erleben wieder Fülle und Lebendigkeit."1
Und:
"Wenn wir uns endlich unserem Schmerz stellen, führt uns das zurück in die Lebendigkeit. Er führt uns direkt hin zu diesem Tor. Die Krise ist der erste Wegweiser, und der Schmerz befindet sich direkt am Eingang nach Hause. Der Schmerz ist voller Energie - blockierter Energie. Wenn wir in ihn hineingehen, kann er sich lösen und uns die in ihm gebundenen Kräfte wieder zufliessen lassen."2
Und in ihrem neusten Buch "Liebe kann alles" schreibt sie:
"Schmerz hat eine eigene Dynamik und eine extrem starke Kraft, die uns aus dem lebendigen Fluss im jetzigen Moment holt und unsere Aufmerksamkeit mit aller Macht und Wucht auf sich zieht. Schmerz will, dass sie etwas gegen den Moment tun, statt im Moment zu sein."3
Anmerkung von mir: etwas gegen den Moment tun heisst übersetzt: flüchten, sich ablenken, betäuben, eine Ersatzhandlung, Alkohol trinken um nichts mehr zu spüren...usw.
"Sie müssen daher jetzt vollkommen präsent bleiben: wenn Sie wieder und wieder atmen und in den Schmerz hineinsinken, dann kommt der Punkt, an dem Sie alles loslassen können." 4
Und:
"So wie mangelnder Kontakt und Unbewusstheit die Energie von Ihnen abgespalten haben und den Schmerz in Ihnen zu einem eigenen Wesen haben werden lassen, so bringt Ihre Berührung des Schmerzes den entgegengesetzten Prozess in Gang." 5
Erschienen in erster Auflage 2019 im Arkana Verlag, München |
3. Ich bin der lebendige Beweis, dass es so wahr ist, das mit der Kraft, die im Schmerz blockiert war und die einem, wenn man es schafft ihn endlich loszulassen, wieder zufliessen kann. Ich bin der Beweis, dass es möglich ist aus diesem Elend wieder herauszufinden und nicht depressiv und entmutigt in ihm steckenzubleiben. Und damit möchte ich euch Mut machen!
Es braucht teils übermenschliche Kräfte. Und den eisernen Willen, dranzubleiben, auch wenn man meint es nicht mehr aushalten zu können.
Vielleicht passiert es bei euch aber auch alles viel sanfter. Tröpfelnder. Langsamer. Behutsamer.
Meine Verarbeitung glich streckenweise einem Panzerfahrzeug. Oder einem TGV.
Ich glaube auch hier spielen sowohl das Mass an Verdrängung wie auch die Intensität der äusseren Krise eine Rolle.
Da die Krise so massiv war, holte sie auch mit massiver Urgewalt ALLES hoch. Alles auf einmal.
Interessant:
Gerade bei der Verarbeitung dieser Schicht war niemand da.
Keine Psychologin. Kein Therapeut. Einfach niemand.
Und irgend etwas in mir wusste interessanterweise auch: da muss ich allein durch. Ganz allein. Alle Fragen, alles von aussen würde mich in dem Moment nur ablenken. Und da der Schmerz in Wellen kam, und ich zum Glück doch schon etwas Erfahrung hatte in diesem Prozess des Schmerzannehmens (danke Eva-Maria Zurhorst), konnte ich ihn dann nehmen, wenn er kam. Morgens. Abends. Nachts.
Mach es aber nicht allein, wenn du noch nicht so geschult bist in solchen Prozessen. Hol dir Hilfe. Es braucht wie gesagt immense Kraft, der Wucht dieses Schmerzes, der vielleicht in dir ist, standzuhalten.
Aber wisst ihr was?
Etwas in mir dachte trotz allem die ganze Zeit:
ENDLICH!!!
Und die Kraft, die Sicherheit, und das neue Lebensgefühl, das ich habe, seit ich mich diesem Schmerz gestellt und ihn transformiert habe, lässt sich fast nicht in Worte fassen! Meine Verlustangst, die sich unbemerkt in so vielen meiner Handlungen niedergeschlagen hatte, ist heute nurmehr ein kleiner Stein, der grad kurz piekst, wenn ich ihn per Zufall berühre. Mehr nicht. Ich ruhe mehr in mir, und es haut mich nichts so schnell mehr um.
DAS ist die Belohnung.
Das ist phantastisch!
Und das kann ich dir mit auf den Weg geben!
Der Schmerz ist wirklich nicht das Ende, sondern im Gegenteil der Anfang eines neuen Lebens. Der Schmerz ist dein Freund. Es lohnt sich, ihn willkommen zu heissen, denn er bringt dir ein Geschenk.
Mach ihm ab jetzt nicht mehr die Tür vor der Nase zu wenn er anklopft.
______________________________________
1 Aus "Liebe dich selbst und freu dich auf die nächste Krise", von Zurhorst&Zurhorst, Seite 143
2 Aus "Liebe dich selbst und freu dich auf die nächste Krise", von Zurhorst&Zurhorst, Seiten 143 - 144
3 Aus "Liebe kann alles", von Eva-Maria Zurhorst, S. 256
4 Aus "Liebe kann alles", von Eva-Maria Zurhorst, S. 256
5 Aus "Liebe kann alles", von Eva-Maria Zurhorst, S. 257
Kommentare