Die zwei Wahrheiten im Leben von Adoptierten

Gibt es jemanden da draussen, der so verzweifelt war, wie ich in meiner Jugend? Absolut haltlos, nirgendwo richtig zugehörig, traurig, grunddepressiv?
Bestimmt gibt es euch da draussen.
Für euch schreibe ich diesen post.

Das Grundgefühl in meiner Jugend war das einer Art Aussenseiterin, die nirgends so ganz dazuzugehören schien, nicht ganz hineinpassen wollte in diese Welt, in der sich alle anderen so selbstverständlich bewegten. Es war ein seltsames Gefühl, das sich im Rückblick manchmal so anfühlt, als wäre eine hauchdünne Glaswand zwischen mir und den anderen, ich sehe sie, ich kann mit ihnen sprechen, und doch erreiche ich sie nicht ganz, bin ich auf Distanz, denke, fühle, verhalte mich leicht anders als sie. Das brachte mir oft den Ruf ein, arrogant zu sein. Davon hätte ich nicht weiter entfernt sein können. Und es frustrierte mich unendlich.

Manches davon schob ich bereits damals auf die Tatsache, dass ich meine leiblichen Eltern nicht kenne und somit meine wahre Herkunft irgendwie im Dunkeln verborgen liegt. Und mit ziemlicher Sicherheit hat es auch einen Zusammenhang mit der Identitätsfindung.
Adoptierte sind ja in gewisser Weise immer in einer besonderen Lage. Ständig zwischen zwei Nationalitäten und somit Identitäten sind sie oft auf der Suche nach Antworten auf Fragen wie 

"Wo gehöre ich hin?", 
       
"Wer bin ich überhaupt?", 
                 
"Wo sind meine Wurzeln?" und 
                          
 "Habe ich überhaupt Wurzeln?"




Meine Wurzeln sollen in Indien sein...diesem wilden, lauten, bunten, geheimnisvollen furchtbar-phantastischen Land, das mir in etwa so fremd ist wie jedes andere "ausländische Land" und das ich nur von wenigen Ferienwochen kenne. Womit könnte den da Identifikation gelingen? Worin könnte ich mich wiedererkennen? In der kleinen, molligen Frau im rotorangen Sari, die in ausgelatschten FlipFlops die Strasse entlanghastet? In der dicken Marktfrau? In den vielen dünnen Männern, die sich wie ein gefühlter Schwarm Hornissen an meine Sohlen heften, kaum verlasse ich das Hotel? In dem kleinen Mädchen mit dem schwarzen Punkt auf der Stirn, das in zerfetzten dreckigen Kleidern am Strassenrand bettelt, in einem Land, in dem ich ebenfalls fremd, ebenfalls nicht ganz dazugehöre, wo nach zwei Sekunden klar ist dass ich nicht einheimisch sein kann, da der Sprache nicht mächtig...Wo ich nichts Verbindendes finden kann ausser vielleicht der Tatsache dass alle Menschen dunkelhäutig und schwarzhaarig sind?
Mit 17, ja noch mit knapp dreissig erscheint mir dieses Unterfangen, dieser Versuch einer Identitätsfindung und Annäherung an dieses Land, in etwa so utopisch wie der Versuch, innerhalb einer Woche einen Spagat hinzukriegen. Ich bin fremd. In beiden Welten. Die Traurigkeit bleibt. 

Benaulim, Goa

Benaulim Beach, Goa

New Delhi, Blick vom Dach unseres Hotels

India Gate, New Delhi
Meine Kindheit in der Schweiz kann auf jeden Fall als glückliche Kindheit bezeichnet werden. Mir „fehlte“ es an nichts. Ich hatte (und habe) total liebevolle Adoptiveltern, immer genug zu essen, ein Dach über dem Kopf, ein schönes Zimmer, viele Spielsachen und eine Schwester. Dieser Gedanke fühlte sich jedoch schon immer an, wie nicht ganz zu Ende gedacht. Doch mit 15 hatte ich nicht die Kraft, noch das Wissen, noch die Möglichkeiten, sehr viel weiter zu denken, und musste es vorerst dabei bewenden lassen.

Ich fühlte mich wie ein Wesen, das wurzellos, orientierungslos und verloren im Universum dahin driftete, nicht wissend, woher es kam oder wohin es gehen sollte. Und vor allem nicht, was es sollte auf dieser Welt, in der alle einen Platz zu haben schienen. Heimatloser Weltenüberbrücker. 

Dass mir vollkommen der Boden fehlte, konnte ich damals nicht auf diese Weise ausdrücken, da es ein sehr diffuses, untergründiges Gefühl war, sehr schwer in Worte zu fassen, ja, manchmal nicht einmal richtig greifbar.
Dazu kam noch ein weiterer, wichtiger Faktor: ich gestand mir dieses Gefühl nicht ein!
Es war eher wie eine Melodie im Hintergrund, die mich ständig begleitete, von der ich einen Grossteil der Zeit nicht bewusst bemerkte, dass sie überhaupt existierte. Doch ihre Töne erklangen in jeder meiner Handlungen, in jedem meiner Gedanken, ohne dass mir dies bewusst gewesen wäre.
Warum ich mir dieses Gefühl nicht eingestand? Schon gar nicht ZUGESTAND?

Einerseits aufgrund der Tatsache, dass ich ja Eltern hatte!
Warum sollte dieses Gefühl denn in mir sein, wenn ich ein so liebevolles Zuhause hatte, in die Schweiz adoptiert worden war, eines der reichsten Länder dieser Erde, alle erdenklich besten Startchancen ins Leben bekommen hatte und einfach nur glücklich sein sollte? Das wurde schliesslich von mir erwartet. Oder nicht?

Und andererseits, und da geht es sicher vielen von uns sehr ähnlich: aus einem diffusen Schuldgefühl heraus. Muss man nicht diesen Leuten dankbar sein, die einen "gerettet" haben, einem ein derart tolles Leben ermöglichen, ist es nicht fast ein Verrat wenn ich mir eingestehe, dass ich nicht nur glücklich, sondern irgendwo tief in mir drin eben auch todtraurig bin?

Jetzt im Rückblick, und mit dem Wissen, das ich heute habe, erkenne ich, dass da etwas war, das ich schon immer ganz deutlich gefühlt, aber aus oben genannten Gründen nicht zugelassen hatte:

ES GIBT ZWEI WAHRHEITEN IN MEINEM LEBEN!

Eine davon jedoch hatte den Vorrang. Die andere durfte nie sein.


     1.  Wahrheit: Ja, ich darf mich glücklich schätzen, von einem armen in ein reiches Land gekommen zu sein, alle Möglichkeiten zu haben und davon zu profitieren, liebevolle Eltern zu haben und immer genug zu essen.

     2.  Wahrheit: ich darf auch TRAURIG sein. Ich darf VERZWEIFELT sein, dass ich nicht mehr in meinem Geburtsland lebe und von meinen leiblichen Eltern getrennt worden bin!  

Denn in mir drin existiert eine riesige unsichtbare Wunde. Eine, die ständig präsent ist,  ständig irgendwie drückt, aber ständig fast wie hinter einer Nebelwand verborgen liegt.



Das Adoptionstrauma.

Auf die eine oder andere Weise tragen wir alle Adoptierten ein solches Trauma in uns. ICH jedoch hätte bestimmt 30 Jahre meines Lebens dieses Wort in meinem Zusammenhang noch nicht einmal in den Mund genommen.

Ich – und Trauma?
Warum denn???
Sicher nicht.
Mir geht’s ja gut.
Genau.

Ist es nicht das, was vielen von uns passiert? Was viele von uns über sich sagen?
„Ist ja alles gut.“
Gibt es auch in deinem Leben nur eine dieser zwei Wahrheiten? Darf nur die eine existieren und die andere nicht?
Ich persönlich hatte dieses Trauma derart abgespalten, so in die tiefsten Tiefen meines Unterbewusstseins weggepackt, dass es wie gar nicht mehr zu mir gehörte, nicht mehr Teil meiner Persönlichkeit war.
Es durfte nicht sein. 
Es durfte nicht sein.
Es durfte nicht sein. 
Im Grunde geht es ja dabei nicht zuletzt auch um eine Art Überlebensstrategie des Babys bzw. Kleinkindes, das irgendwie zurechtkommen und weiterleben muss. Verdrängung und Abspaltung können in diesem Moment lebensrettend sein. Daran ist nichts falsch. Schwierig wird es erst, wenn wir als Erwachsene nicht mehr weiter kommen mit den bisherigen Verdrängungsstrategien.

Meine Schwester, die ebenfalls adoptiert ist, begann schon früh, sich für ihre leiblichen Eltern zu interessieren, sie setzte sich intensiv damit auseinander und unternahm viele Schritte bis hin zu einer Reise nach Goa, um ihre leibliche Mutter zu suchen.

                                                                                       Goa
In mir existierte lange lange Zeit überhaupt kein solches Verlangen, ja es ging sogar noch weiter: meine Mutter war ein so abstraktes Konzept, dass ich die Gedanken meiner Schwester, die über ihre schwangere, in Goas Hauptstadt Panjim herumlaufende Mutter sinnierte, fast nicht nachvollziehen konnte. 
Das gehörte nicht zu mir. Eine solche Mutter gab es in meiner Biografie nicht. Ich hatte meine Adoptiveltern, und die reichten mir.
Ach du meine Güte!

Heute weiss ich: es ist unendlich WICHTIG für uns, diese zwei Wahrheiten voll und ganz in unserem Leben zuzulassen. Ihnen beiden gleich viel Raum zuzugestehen. Es ist so wichtig zu trauern!!! Um das, was nicht war. Was nicht ist und wahrscheinlich niemals sein wird! Wir dürfen um die Liebe unserer leiblichen Eltern trauern, die sie uns nicht geben konnten, und dabei nehmen wir unseren Adoptiveltern nichts weg und setzen sie auch nicht herab.

Ich lernte erst, richtig darum zu trauern, als mich das Leben regelrecht dazu zwang.

Mehr dazu in den nächsten posts.

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