Der Raum zwischen "Nicht mehr" und "noch nicht"

Am letzten Sonntag bin ich auf meinem Spaziergang, den ich mit einem Augenzwinkern meine „Gehmeditation“ nenne, auf diesen Baum gestossen. Er lag nicht auf meinem Weg, sondern links davon, ein kleines Stück in den Wald hinein. Spontan war ich einem Impuls gefolgt, den Weg kurz zu verlassen. Und da lag er. 


Mit hellgrünem, weichem Moos überwachsen, teilweise schon etwas vermodert, in den mit dürrem Laub übersäten Waldboden eingebettet wie für die Ewigkeit.


Ich berührte das Moos mit meinen Händen, kletterte schliesslich auf den umgestürzten Stamm und balancierte darauf, wie es Kinder liebend gern tun. Dann setzte ich mich hin, und die Gedanken sprudelten nur so.

      

Etwas Altes muss sterben, damit etwas Neues kommen kann. Im Grunde eine Binsenweisheit, doch dieser Baum, der da gestorben war und nun eine Art neue Daseinsform erlangt hatte (Nährboden für Moos, Flechten und Baumpilze, Lebensraum für Insekten und kleine Waldtiere wie Mäuse oder Igel) rückte dieses Thema, das mich ja jetzt schon eine Weile wie eine ständige Hintergrundmelodie begleitet, wieder voll in den Fokus. 


Es zeigte mir einmal mehr, dass die Natur schon immer ganz selbstverständlich drauf hatte, womit wir Menschen uns so entsetzlich schwer tun.
Wir klammern. Bewahren. Horten. Sichern uns doppelt und dreifach ab. Vollkasko? 3. Säule? Lebensversicherung? Vollgestopfte Speicher? Dabei ist das Werden und Vergehen einfach ein Naturgesetz im gesamten Universum.

Etwas Altes MUSS gehen, damit das Neue kommen kann. Das Neue, das meist im Endeffekt oder im Nachhinein betrachtet so viel besser, weiter, grösser, schöner ist als das Alte, uns Menschen aber solche Angst macht, da es so unbekannt ist. Diese Angst vor dem Unbekannten befeuert dann die Angst vor dem Loslassen des Alten. Dabei ist unsere Zukunft, wenn wir das Ganze aus einer bestimmten Perspektive betrachten, so oder so unbekannt und ungewiss. Alles kann jederzeit passieren. Siehe Coronavirus. Das gäbe aber wieder einen anderen post.

Das Alte dient, im Leben wie auch bei meinem Baum, als Nährboden für das Neue. Als eine Art Hummus, aus dem die neuen, frischen Pflänzchen spriessen können.
Ich habe viel Altes losgelassen in letzter Zeit. Ich bin in eine unbekannte Zukunft hineingesprungen, habe nach und nach neue Samen gesetzt. Die ersten Pflänzchen beginnen zaghaft zu spriessen.
Diese Pflänzchen allerdings, die brauchen Zeit zum wachsen und gedeihen, es nützt nichts an ihnen zu reissen, sie wachsen dadurch nicht schneller, sondern werden womöglich ausgerissen, bevor sie überhaupt erblühen konnten. Ich muss meine Angst im Zaum halten, meine Unruhe, meine Ungeduld.
Das ist schwierig auszuhalten für Menschen, denen von der Gesellschaft ständig suggeriert wird „schneller, besser, höher, mehr leisten, wer rastet der rostet...“
Vor allem letzteres ist einfach oft nicht wahr. Manchmal braucht es dringend ein Innehalten, ein „Rasten“, eine Art „Reset“.

Menschen wie mir, die sich das nie erlaubten, wird es vom Leben dann eben manchmal aufgezwungen.
                                                    

Setz dich endlich hin Selina. Halt inne. Du bist zu lange in die falsche Richtung gerannt. Lass sie Selbstordnungskräfte des Universums endlich wieder zu.

Kalenderspruch aus dem Magazin Flow

In "Liebe dich selbst und freu dich auf die nächste Krise" kann man lesen:

"Die Krise ist nicht Ihr Feind. Sie hält Sie auf, damit Sie endlich innehalten. Damit Sie nicht weiter dem falschen Weg folgen. Damit Sie aufhören, vor sich und den Schmerzen der Vergangenheit wegzulaufen und Ihr eigentliches Wesen im Stich zu lassen." 1 

"Also hören Sie lieber auf zu rennen. Bleiben Sie stehen, und vertrauen Sie sich der Krise an. Egal, ob sie sich körperlich, seelisch oder auf einer scheinbar äusserlich existentiellen Ebene manifestiert. So schmerzhaft sie auch scheint, in Wahrheit ist sie ein kostbares Geschenk." 2


Der Raum zwischen „nicht mehr“ und „noch nicht“ tut sich vor mir auf. Das alte Schloss ist eingestürzt, nicht mehr bewohnbar, der Schlossgarten zerstört, aber die neuen Pflänzchen in der frisch geharkten Erde blühen noch nicht. Ich betrachte ihn mit Ehrfurcht, diesen Raum, erfühle ihn, und auch dieser Raum fühlt sich ungewohnt an, unangenehm, ich möchte davonrennen und mich doch wieder ans Alte klammern, weil das nicht mehr gut war, sich aber trotz allem nicht so angsteinflössend und haltlos anfühlte wie dieses „in between“.

Kalenderspruch aus dem Magazin "Flow"

Ja, haltlos.
In diesem unbekannten Raum weiss ich nicht genau woran ich mich orientieren könnte. Es braucht meinen ganzen Mut, und mein ganzes Urvertrauen ins Universum, den Pflänzchen einfach ihre Zeit zuzugestehen, um zu wachsen. Jede Blume, die fähig ist zur Blüte, wird irgendwann erblühen. Dann wenn es Zeit ist. Wenn alle Voraussetzungen erfüllt sind. Es ist auch die Fähigkeit des „Geschehenlassens“, im Vergleich zum „Machen“, das in unserer Gesellschaft einen so viel höheren Stellenwert besitzt.
Das ewige machen, rennen, noch mehr leisten, noch verzweifelter kämpfen hat mich aber nur in die Sackgasse geführt.

Auf meinem Baum sitzend, erhasche ich plötzlich eine Bewegung im Gehölz, denke erst an einen Hund, entdecke dann aber sehr fasziniert, dass es drei Rehe sind, die in schnellen, hohen Sprüngen das kleine Waldstück durchqueren, eins hinter dem anderen.
Ich bin beglückt, diese Rehe hätte ich nie gesehen, wäre ich nicht „vom Weg abgekommen“.
Ja, manchmal muss man vom Weg abkommen, die vertrauten Pfade verlassen, um Unbekanntes zu entdecken. Manchmal reicht schon ein Meter, und es tut sich einem eine völlig neue, unbekannte Welt auf. Einen Meter raus aus der Komfortzone. Einen Meter weg von den ewig gleichen, ausgetretenen Trampelpfaden, die ausgedient haben. 
Manchmal wird man auch, wie ich, mit Wucht aus dem Orbit geschleudert. Passt. 
Herausforderung angenommen.
Und dann kann das neue Leben damit beginnen, in kleinen Schritten Gestalt anzunehmen.


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Alle Fotos by SelinaDacy
1 Aus "Liebe dich selbst und freu dich auf die nächste Krise von Zurhorst&Zurhorst, S. 147
Aus "Liebe dich selbst und freu dich auf die nächste Krise von Zurhorst&Zurhorst, S. 171

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