Ne me quitte pas...

Ich weiss ja nicht wie es euch geht. Ich war mein halbes Leben lang ganz woanders als bei „die Welt ist nur ein Spiegel.“
Die Welt war für mich ein (oft recht widriger) Ort an dem einem (teilweise sehr schlimme) Sachen passieren können die man meist nicht im Geringsten beeinflussen kann. Der Alltag kann (ziemlich öde und) langweilig sein aber daran ist nun mal nichts (oder nicht sehr viel) zu ändern.

Äaah...
Nein. Happy?
Ich war kein Mensch der jeden Tag mit einem Lächeln aufstand und sich freute auf alles was an diesem Tag passieren könnte. Ich hatte den Pessimismus quasi gepachtet. Die Depression ebenfalls. 
Es regnete draussen? Scheisswetter. Natürlich hat man (ich) da schlechte Laune. Die Prüfung ist in die Hosen gegangen und der Blick des Mathelehrers reichte, um mich zum Zwerg schrumpfen zu lassen vor Scham? Das alles vielleicht am selben Tag, an dem es eben regnete, ich auch noch den Bus zum Gymnasium verpasst hatte und meine beste Freundin so gemein zu mir war, dass ich mich nur noch verkriechen wollte? 
Der Tag war gelaufen, aber sowas von. Und da war dann auch nicht gross was daran zu drehen.

Positives Denken?
Hm naja. Mal sehen, morgen vielleicht.
Und by the way...funktioniert das überhaupt?

Und jetzt, 20 Jahre später, kommt diese Frau Zurhorst daher und behauptet, nein, es ist genau umgekehrt? Die Welt die du erlebst ist dein Spiegel?
Etwas in mir wusste intuitiv, dass sie recht hat.
Mein Verstand machte erst mal einen Kopfstand.

Ich musste einige weitere Bücher wälzen, mich dem Phänomen von verschiedenen Seiten her sehr behutsam und skeptisch annähern, bis es wirklich sackte.
Zum Beispiel dieses:

Erschienen 2016 im Wilhelm Heyne Verlag, München

Robert Betz ist ein fast kahlköpfiger Mann mit einem runden Bauch und einem ziemlich trockenen Humor. Es gibt viele YouTube-Videos die man im Netz anschauen kann. "Raus aus den alten Schuhen" ist ein cooles Buch, ebenfalls sehr erfrischend und auch absichtlich etwas provokativ geschrieben, von dem ich enorm viel lernte, unter anderem, wie viele gesellschaftliche und familiäre Prägungen wir mit uns herumschleppen und - und das ist mithin das Schlimmste - FÜR DIE WELT HALTEN!

Gopf. Irgendwie geriet mein sorgsam über die Jahre erschaffenes Weltbild immer mehr ins Wanken und Bröckeln.

Robert Betz nennt diese Prägungen "alte Schuhe". 
Und er schreibt was Schönes dazu:

"Der "Normalmensch" besitzt heute einen Schrank voller alter Schuhe, von denen er jeden Morgen, wenn er aufwacht und seinen Tag beginnt, welche anzieht. Er merkt schon gar nicht mehr, dass seine Füsse schmerzen und mit ihnen seine Seele - man kann sich an so vieles gewöhnen. Und wir haben uns an die verrücktesten Sachen gewöhnt." 1

Beispiele seiner alten Schuhe: Keine Zeit haben, Anstrengung und Schwere leben, Opfer spielen, sich Sorgen machen, Wegmachen, was stört, Mich selbst und andere verurteilen, sich ärgern und Wut ansammeln...usw. 

Ach du meine Güte. 

Ich finde den Begriff der "alten Schuhe" ziemlich witzig und gut gewählt, allerdings impliziert dieser für mich, dass man diese alten Schuhe (Prägungen), wenn unnütz, einfach so abstreifen kann beziehungsweise gar nicht mehr anziehen muss. Und ganz so einfach finde ich persönlich es dann doch nicht. Aber es ist ein wunderbares, einprägsames Bild, um sich bewusst zu machen, was an Prägungen, die uns blockieren, wir mit und in (oder an) uns herumtragen.

Vom Konstruktivismus oder besser Sozialkonstruktivismus, einer Metatheorie in der Soziologie, die uns in der pädagogischen Hochschule beigebracht worden war, hatte ich bereits ein Konzept davon, dass jeder Mensch sich seine eigene Wirklichkeit konstruiert.
Robert Betz lehrte mich denn auch, dass wir uns unser Leben selber erschaffen. Durch unsere Gedanken und Gefühle, die zu bestimmten Handlungen führen und somit unser Leben massgeblich steuern und beeinflussen. Das war aber damals noch zu hohe Schule. 
Ich habe das Buch kürzlich noch einmal gelesen und finde vieles wirklich grandios. Ich werde in einem anderen Artikel noch einmal darauf zurückkommen. Und auf dieses unglaubliche Thema. 

Aber zurück zum Perspektivenwechsel. Das Aussen ist ein Spiegel vom Innen.
Auch Robert Betz schreibt dazu:

"Was du über dich denkst, das erlebst du im Aussen an der Reaktion anderer Menschen. Was du über dich denkst, das spiegeln dir andere Menschen wider; sie bestätigen dir nur das, was du tief in dir über dich denkst und fühlst. Wenn du dich nicht für liebenswert hältst, dann wird dir nicht allzu viel Liebe im Leben begegnen." 2 

Was sich bei mir als Erstes durch diesen neuen Blick auf die Dinge veränderte, war denn auch mein Blick auf meine bisherigen Partnerschaften. Ich begann diese, die mir bis anhin als ziemlich „normal“ vorgekommen waren, unter die Lupe zu nehmen,  zu sezieren, und entdeckte relativ schnell eine Thematik, die sich wie ein roter Faden durch sämtliche Beziehungen zog:

Mehr oder weniger massive Bindungs- und Verlustangst.

Hoppla!

Nie im Leben wäre mir das ja nur in den Sinn gekommen früher.
Doch die Lektüre vieler Beziehungsratgeber und psychologischer Fachliteratur bewies es mir ziemlich eindeutig.
Das war eine Art Initialzündung, die mich schlussendlich mitten ins Adoptionsthema hineinkatapultierte.
Vielleicht findest ja auch du dadurch einen Zugang zu deinem Thema?

Durch ein Biografieseminar, das ich mitten in meiner Krise besuchte, wurden mir diese Zusammenhänge noch deutlicher.
Was war es denn, was mich immer wieder verzweifelt einem Mann hinterherrennen liess, der mir nichts geben konnte, mich aber trotzdem klammern und nicht genug bekommen liess und dazu führte, dass ich mich komplett erniedrigte, verkaufte, prostituierte und dabei gleichzeitig "an seinem ausgestreckten Arm verhungerte"?

Kennst du dies vielleicht auch von dir und einer oder mehrerer deiner Beziehungen?
Dies und das schreckliche Gefühl, trotz allem Leid einfach nicht loslassen zu können, im besten Glauben, ihn/sie doch "so sehr zu lieben"? So sehr, dass Selbstaufgabe nicht nur eine Option darstellt, sondern zu DER Wahl schlechthin avanciert.

Mir kommt da immer das Lied „Ne me quitte pas“ in den Sinn, das ursprünglich vom belgischen Chançonnier Jacques Brel stammt, mir persönlich gefiel allerdings schon immer die Version von Nina Simone irgendwie besser. Die Kombination aus französischen Worten und englischem Akzent hat etwas exotisch-tiefgründiges, das, gepaart mit ihrer tiefen, männlich-heiseren Stimme, die Melancholie und den Herzschmerz dieses Liedes auf eine Weise transportiert, die einen (mich) ganz tief berührt.
In dem Lied heisst es in der letzten Strophe:



"Lass mich der Schatten deines Schattens werden, der Schatten deiner Hand, der Schatten deines Hundes nur....verlass mich nicht!"

Was genau wird denn da besungen, fragte ich mich auf einmal, in diesem Liebeslied, ist es ein Liebeslied oder nicht doch eher eine Hommage an die absolute Selbstaufgabe? Ist es nicht genau diese sich verzehrende, sich aufgebende und verratende „Liebe“, die einen zu den unmenschlichsten Dingen treibt, nur damit der andere einen nicht verlässt? Ist das überhaupt Liebe?
Emotionale Abhängigkeit wird da besungen.
Und Angst.
Die Angst vor dem Alleinsein.

Die Verlustangst.

Der Kern unseres Traumas.

Ich - und Verlustangst? Nee oder?

Ich erkannte mich zeitweise so sehr wieder in diesem Lied, als wäre es extra für mich geschrieben worden; so oft wäre ich gern wenigstens der Schatten seines Hundes geworden, damit ich in seiner Nähe bleiben konnte, damit er mich nicht von sich stiess.

Jesus christ!!!

Ein harter Brocken.

Dasselbe in Grün im Lied "The Rose" von LeAnn Rimes:



Die Rasierklinge, ja, die kannte ich zu gut.
Den Hunger auch.

Und so sehr ich die Kunstform des Liedes liebe und unendlich dankbar bin, dass  gerade die Erfahrung eben dieses Elends, dieses Leidens, dieser Selbstaufgabe ermöglicht, solche Lieder für die Ewigkeit zu schreiben, so sehr begann etwas in mir zu arbeiten.

Verlustangst?
Die Angst jemanden zu verlieren. Verlassen zu werden, ohne etwas dagegen tun zu können.

Hallo Mama.


Dazu mehr im nächsten post.

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1 Raus aus den alten Schuhen von Robert Betz, S. 45
2 Raus aus den alten Schuhen von Robert Betz, S. 131

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