Die Wurzeln unseres Baumes sind unsere leiblichen Eltern - ob es uns passt oder nicht
Die leiblichen Eltern sind für Adoptierte (da es da direkt ans Eingemachte, nämlich an das Adoptionstrauma geht), aber sicher auch für einige nicht-adoptierte Menschen, ein schwieriges Thema. Ich selbst habe lange Zeit einen Bogen drum herum gemacht. Einen riesengrossen Bogen. Es ist ein wunder Punkt, einer, über den ich Zuckerguss gestreut hatte, damit er nicht so weh tut. Ich habe ja im post "über mich" mein Geschichtchen geschildert, das ich schnell erzählte, wenn mich jemand nach diesen leiblichen Eltern fragte. Eigentlich wollte ich wenn möglich gar nichts mit ihnen zu tun haben. Sie waren abstrakt. Sie existierten nicht.
Und doch: irgendwann wurde ich 2019, im Zuge meiner Lebenskrise, wieder durch Eva-Maria Zurhorst, mit dem Gesicht hineingestossen in folgende Tatsache: es ist immens wichtig, gerade für uns Adoptierte, aber letztendlich für alle Menschen, dass wir das Verhältnis zu unseren (leiblichen) Eltern in Ordnung bringen!
Warum?
Das habe ich mich lange auch gefragt. Du weisst schon..."ich habe ja meine Adoptiveltern..." und so weiter.
Eva-Maria Zurhorst schreibt dazu folgendes:
"Egal, ob unsere Eltern noch leben oder nicht. Egal, ob wir sie kennen oder nicht. Egal, ob wir mit ihnen Kontakt wollen oder nicht - sie sind unser Fundament in dieser Welt."
(...)
"Wenn heute ein Arzt ihre Gene untersuchen würde, würde er dort nichts über Ihren Stiefvater, Ihre Adoptiveltern oder die Pflegemutter finden. Und ob ihre Eltern tot sind oder Sie sie verurteilen, Sie sind trotzdem aus ihrer Verbindung entstanden. Wenn Sie diese Verbindung zwischen den beiden und zu Ihnen leugnen, dann verleugnen Sie Teile von sich selbst."
(...)
"Ich bemühe in diesem Kontext in Sachen Eltern gerne ein Bild: Wir sind ein Baum, und unsere Eltern sind die beiden Wurzeln dieses Baumes. Wenn Sie sich von einer oder gar beiden Wurzeln abschneiden, dann muss ich Ihnen kaum vor Augen führen, was mit diesem Baum geschieht." 1
Für mich als aus Indien Adoptierte ist es vielleicht ein solcher Regenschirmbaum...kann an sich die Wurzeln dieses Baums vorstellen? Er bedeckt eine Fläche von 1500m2 und ist 120 Jahre alt! |
Nein, dies ist kein Baum...😊 |
Uiii!!!
Die leiblichen Eltern verleugnen? Schnell über sie hinweggehen mit einem Geschichtchen?
Ist nicht. Selina, da musst du jetzt durch.
Diese Passagen haben mich enorm beeindruckt und massgeblich beeinflusst in der Verarbeitung des Adoptionstraumas. Es machte plötzlich klick (ah, das Wurzellose, Bodenlose in mir...) und nochmal klick (mein Baum kann nur blühen und ich nur dann wirklich glücklich werden und in meine volle power kommen, wenn ich diese meine Wurzeln wiederfinde, wässere, nähre, heile)
Oder die Wurzeln eines Papayabaums? |
Mit "in Ordnung bringen" ist nicht unbedingt gemeint, dass es dafür unabdingbar ist, unsere leiblichen Eltern zu finden. Das ist in vielen Fällen schwierig bis unmöglich.
Auch nicht, dass wir uns unser Leben lang Vorwürfe machen müssen dahingehend, es nicht zu ihren Lebzeiten geschafft zu haben, uns mit ihnen zu versöhnen. Es kann aber natürlich bedeuten, nochmal einen Anlauf zu einer Kontaktaufnahme zu nehmen, ein jahrelanges Schweigen zu brechen oder einen alten Streit endlich zu bereinigen.
In erster Linie meint es aber, dass wir unseren inneren Frieden mit ihnen finden und ihnen vergeben können, auch wenn sie in unserer Kindheit nicht so gehandelt haben wie wir es uns gewünscht haben, gerade wenn es nicht möglich ist sie real zu treffen. Auch wenn sie uns verletzt, verraten, verlassen, weggegeben oder misshandelt haben!
Dass wir erkennen dass sie, und möge es in unseren Augen noch so schrecklich, unverzeihlich, indiskutabel gewesen sein, was sie getan haben, ihr Allerbestes gegeben haben, dessen sie fähig waren.
Lass das mal in dich hineinsacken: "Meine Eltern haben ihr Allerbestes gegeben, dessen sie fähig waren!"
Dabei ist wichtig zu wissen: Jeder Mensch kann nur das weitergeben, was er selber erfahren hat. Haben deine Eltern dir Gewalt weitergegeben, ist es sehr wahrscheinlich, dass auch sie Gewalt erfahren haben. Dass sie selbst keine Liebe erfahren haben, und dadurch auch keine Liebe weitergeben können.
Wenn du das Verhältnis zu deinen Eltern in Ordnung bringen willst, dich von deiner Vergangenheit befreien und wirklich frei sein möchtest, um ab jetzt, von diesem Augenblick an, ein glückliches Leben zu erschaffen, egal wie schlimm deine Vergangenheit war, musst du unter anderem bereit und fähig sein, zu vergeben.
Vergeben?
Vergeben??
VERGEBEN???
VERGEBEN!
Das mit dieser Vergebung ist so schwer zu fassen. Als erstes kommt uns vielleicht Jesus in den Sinn, der uns unsere Sünden vergibt. Oder aber die Polarität von "Gut und Böse", und schon verstricken wir uns in Gedanken wie "er/sie war doch so gemein zu mir und jetzt soll ich ihm/ihr das einfach so verzeihen?"
Es hat nichts mit Jesus zu tun. Und auch nicht mit Gut und Böse.
Vergebung meint nicht, dass man sich über den anderen erhebt und ihm grossmütig (oder gar zähneknirschend) etwas verzeiht, was er in unseren Augen Böses getan hat (um vielleicht heimlich trotz allem noch Rachegedanken zu hegen).
Vergebung meint, erst einmal voll und ganz anzunehmen, was war. Zu würdigen, was war. "Ja, es war schlimm. Ja es hat mich mein ganzes Leben lang verfolgt, belastet, klein gehalten, gedemütigt."
Und es dann in diesem Bewusstsein und im Bewusstsein, dass ICH jetzt frei sein und mich nicht länger klein machen lassen will von meiner Vergangenheit, loszulassen.
Nochmal meine Lieblingsautorin:
"Wenn wir annehmen und vergeben, dann erkennen wir unsere eigene Stärke. Wenn wir immer wieder Opfer bleiben, dann schwächen wir uns selbst." 2
Und, und das ist fast das Wichtigste:
"Die Vergebung(...) sorgt für das vollständige Loslassen von Opferbewusstsein. Diese Vergebung gehört allerdings zu den grössten Herausforderungen für unseren Verstand überhaupt. Diese Vergebung kennt kein Gut und Böse. Sie kennt auch nichts, was es zu verzeihen gäbe. Sie kennt keine Täter und damit auch keine Opfer. Sie fordert uns heraus, unsere Wahrnehmung von der Welt da draussen komplett zu verändern. Sie verlangt von uns nicht, dass wir unsere Erfahrungen verändern, sie sorgt dafür, dass wir unsere Deutung dieser Erfahrungen vollkommen verändern." 3
Aha.
"Ich bin nicht das kleine Opfer, das verlassen wurde?"
"Ich bin doch aber von meinem Vater brutal verprügelt worden, das ist doch einfach indiskutabel."
"Ich bin von meinem Onkel vergewaltigt worden, und das soll ich einfach so vergeben? Spinnen die?"
Vielleicht denkt es gerade solches in dir.
Solches dachte es in mir auch (und nein, ich wurde weder vergewaltigt noch geschlagen!!! das sind nur Beispiele) Aber denken tut der Verstand. Und wie Frau Zurhorst schreibt, die Vergebung gelingt nicht auf Verstandesebene.
Wenn Vergebung nicht von uns verlangt, unsere Erfahrungen zu verändern (die waren schlimm und dürfen es auch sein!) sondern unsere DEUTUNG dieser Erfahrungen zu verändern, kommen wir der Sache mit dem Aussteigen aus dem Opferbewusstsein schon näher. Dann geht es um "ja, ich bin von meinem Vater verprügelt worden. Und das war schlimm. Ich darf meine ganzen schlimmen Gefühle, die damit zusammenhängen, annehmen. Aber ich vergebe ihm, denn ich möchte mich HEUTE davon nicht mehr länger blockieren und schwächen lassen, und ausserdem anerkenne ich, dass er es nicht besser konnte!"
Das ist unendlich schwierig. Und ich meine auch nicht, dass das von einem Tag auf den anderen geht.
Die Heilung gerade unseres Traumas kann ein zäher, unglaublich schmerzhafter Prozess sein, der ein immer wieder erneutes Einlassen erfordert, viele viele Runden der Vergebung, und immer wieder ein Eintauchen in den Schmerz, bis man ihn loslassen kann.
Meine eigene Motivation, das, was mich weitermachen lässt, ist die Gewissheit, dass es sich lohnt, da ich, wenn ich diese Schmerzen loslassen kann, so viel freier und glücklicher sein werde. Ich möchte mich befreien.
Dazu habe ich die Vergebung als eines der nützlichsten tools erkannt.
Das ist das Eine.
Und das Zweite, um was es geht, wenn wir unsere Wurzeln heilen wollen, ist die Befreiung vom Schmerz des Verlassenwordenseins, der Misshandlung und Gewalt. Noch schwieriger?
Eva-Maria Zurhorst schreibt dazu:
"Der Schmerz ist nicht das Ende. Wenn wir bereit sind, ihn wirklich zu fühlen, führt er uns direkt hinein in den Augenblick. Jeder Augenblick ist wie ein Tor. Je mehr Bezug wir zu ihm haben, desto eher öffnet sich dieses Tor, desto mehr fühlen wir uns verbunden und erleben wieder Fülle und Lebendigkeit."4
Und:
"Wenn wir uns endlich unserem Schmerz stellen, führt uns das zurück in die Lebendigkeit. Er führt uns direkt hin zu diesem Tor. Die Krise ist der erste Wegweiser, und der Schmerz befindet sich direkt am Eingang nach Hause. Der Schmerz ist voller Energie - blockierter Energie. Wenn wir in ihn hineingehen, kann er sich lösen und uns die in ihm gebundenen Kräfte wieder zufliessen lassen."5
Das ist wohl eine der grössten Erkenntnisse, die ich dir weitergeben möchte.
Wenn du wieder in deine volle Kraft kommen möchtest, musst du lernen, den Schmerz zuzulassen, nicht vor ihm davonzulaufen und ihn nicht mehr zu verdrängen.
Dazu muss man nicht jahrelang in die Psychotherapie. Man muss nur ganz bewusst im Augenblick ankommen und FÜHLEN, was gerade ist.
Denn jeder Schmerz, den man bewusst fühlt und annimmt, muss nicht mehr unter der Wasseroberfläche dahintreiben und dich blockieren und sabotieren.
Ich werde dazu in einem weiteren post noch mehr schreiben, sonst wird das hier zu lang!😊
Das geht! Ich habs am eigenen Leib erfahren! Das geht auch bei dir!
Bei mir brauchte es allerdings eine massive Krise dazu. Vielleicht braucht es das bei dir nicht. Aber wenn es eine Krise ist, dann sei dir gewiss dass diese die allergrösste Chance ist, das Adoptionstrauma zu heilen und den Frieden zu finden mit deinen leiblichen Eltern. Verzweifle nicht!
Es braucht Kraft und Mut und Durchhaltewillen, aber den hast du! Denn du hast überlebt. Du hast das Adoptionstrauma überlebt. Wir sind ungeheuer stark.
Aber manchmal wissen wir es noch nicht!
Meine innere Triebfeder, mein Dynamo dabei: eine Art wilde Entschlossenheit, mich nicht länger blockieren zu lassen, sondern die blockierte Energie wieder zurückzuholen. Zurückzuerobern.
Ist etwas "zitierlastig" geworden, dieser Post, und lang, aber gerade diese Passagen waren für mich absolute Schlüsselstellen, um mich in diesem Bereich weiterzuentwickeln und vor allem um mich auf die Thematik mit meinen leiblichen Eltern überhaupt einzulassen! Vielleicht machen sie auch mit dir etwas.
Und ich zitiere hier immer wieder "nur" die Frau Zurhorst, weil ich einfach der Meinung bin dass sie auf diesem Gebiet eine Koryphäe ist und als Psychologin nach tausenden Paar- und Einzelcoachings und über 25 Jahren Erfahrung einfach weiss um was es geht.
Ich werde im nächsten Post meinen absolut erstaunlichen, unglaublichen (und auch unglaublich schmerzhaften) Prozess mit dir teilen, in dem es mir gelang, mich mit meinem Vater "rückzuverbinden", ihm zu vergeben und somit einen riesigen Teil der Adoptionswunde zu heilen.
Es geht wirklich!
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1 Aus "Liebe dich selbst und freu dich auf die nächste Krise", von Zurhorst&Zurhorst, Seiten 245 - 246
2 Aus "Liebe dich selbst und freu dich auf die nächste Krise", von Zurhorst&Zurhorst, Seite 291
3 Aus "Liebe dich selbst und freu dich auf die nächste Krise", von Zurhorst&Zurhorst, Seite 293
4 Aus "Liebe dich selbst und freu dich auf die nächste Krise", von Zurhorst&Zurhorst, Seite 143
5 Aus "Liebe dich selbst und freu dich auf die nächste Krise", von Zurhorst&Zurhorst, Seiten 143 - 144
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