"Bewusstseinsrevolution" und die Sache mit dem Tierleid

Zum Einstieg eine Frage: Hast du dir schon einmal überlegt, wie es für eine Kuh sein muss, den ganzen Tag die Augen voller Fliegen zu haben? Oder den ganzen Tag eine ultraschwere Glocke um den Hals und lautes Glockengebimmel direkt neben ihren empfindsamen Ohren? Hast du dir schon überlegt, wie es beispielsweise für einen Mops sein muss, sein Leben lang Atemnot zu haben, weil er derart überzüchtet ist dass die Atemwege zusammengedrückt werden? Hast du dir überlegt, wie es für ein Fiaker-Pferd in Wien sein muss, in sengender Hitze den ganzen Tag eine Kutsche über den harten Asphalt zu ziehen?


Quelle: www.nachtruhe.info

Ich denke manchmal solche Gedanken. Ich persönlich drehe ja schon fast durch, wenn eine einzelne Fliege mir ständig um den Kopf surrt. Ehrlich gesagt kann ich an keiner Kuhweide vorbeilaufen, ohne mir solche Gedanken zu machen, und wenn ich das Röcheln eines Mops höre, wird mir ganz anders. Ganz zu schweigen von den unzähligen anderen Beispielen, wo Tiere wegen uns Menschen leiden müssen. Bin ich damit allein? Ist das bescheuert? Oder ist es einfach nur besonders empathisch und mitfühlend einem Tier gegenüber?

Mit der Hochsensibilität (aber sicher nicht ausschliesslich) geht ein Thema einher, mit dem ich mal mehr, mal weniger Mühe habe, was mich abwechselnd erschauern und in tiefe Verzweiflung stürzen lässt: Tierleid. 

Wie kann ich mich einem Thema nähern, bei dem ich immer wieder vom ohnmächtigen Gedanken heimgesucht werde, "nichts oder viel zu wenig" ausrichten und beitragen zu können?

Kürzlich habe ich einen Dokfilm über "Mulesing" bei Schafen gesehen. Ich kannte die unvorstellbar grausame Methode schon, benannt nach deren Erfinder James Mules, bei der Lämmer in eine Art Schraubzwinge gespannt werden und ihnen dann, meist ohne jegliche Betäubung, Hautstücke rund um die Genitalien herausgeschnitten werden, um eine "glatte Hautfläche" zu erhalten, damit Fliegenmadenbefall verhindert bzw. reduziert werden kann. 

Schon beim Schreiben bricht mir fast das Herz, und immer wieder frage ich mich: wissen das die Leute, die mit Begeisterung stricken, nichtsahnend weiche Merinowolle kaufen und dabei das Gefühl haben, ein tolles "Naturprodukt" erstanden zu haben? Wissen das die Leute, die feine Wollsakkos tragen? Wissen sie es nicht? Oder ist es ihnen schnurzpiepegal? 

Die Wahrheit ist: es klebt Blut daran. An so gut wie jeder Merinowolle, an jedem Kleidungsstück in dem Wolle verarbeitet wurde. Der grösste Anteil an Merinowolle kommt aus Australien und Neuseeland. Und da wird Mulesing noch immer fast überall routinemässig praktiziert. Das Argument der Mulesing praktizierenden Fraktion: Fliegenmadenbefall ist nicht minder brutal, dabei wird das Schaf bei lebendigem Leibe von innen her aufgefressen.

Stimmt. Hat was.

Hat was? Berechtigt das somit zu einer derart barbarischen Methode?

Sicher, die wurde vor 200 Jahren entwickelt. Zu dieser Zeit war das Bewusstsein darüber, dass ein Tier auch Schmerz empfindet, noch sehr unterentwickelt, es war halt einfach ein (Nutz)tier. Und es ging um andere Dinge als heute. Viel wissenschaftliches Wissen fehlte, viele Erkenntnisse, viel Bewusstsein. Doch das ist es gleichzeitig, was mir solche Mühe macht, wenn es um Traditionen geht. Das betrifft auch die Kuhglocken. Oder die Fiaker. Traditionen werden oft nicht hinterfragt und einfach von Generation zu Generation weitergegeben. "Man hat es halt schon immer so gemacht". Auch wenn sich die Rahmenbedingungen, die Umwelt, die Menschen und das Wissen rundherum komplett verändert haben.

Das ist es denn auch, was Schafzüchter antworten, auf die Frage, warum sie sowas tun. Die Schafzüchter, die sehr erstaunt, sehr befremdet und sehr kritisch auf die bisher wenigen Züchter reagieren, die Mulesing abschaffen wollen bzw. nach neuen, etwas tierfreundlicheren Methoden suchen, wie etwa, dass das Schaf zumindest betäubt wird bevor die "Operation" stattfindet.

"Wir haben das doch schon immer so gemacht."

Dem Merinoschaf wurde über die Jahrzehnte und Jahrhunderte eine ganze Reihe Hautfalten angezüchtet, um den Wollertrag zu steigern. In diesen Hautfalten können sich Fliegenmaden umso leichter einnisten. Die Wolle ist wahnsinnig schwer und das ganze Schaf dermassen überzüchtet, dass es an die Umweltbedingungen gar nicht mehr angepasst ist. Dann kommt der Mensch und schneidet Unvorteilhaftes wieder weg.

Quelle: bilder.markt.de

Mir fehlen da tatsächlich die Worte. Ich als hochsensibles Wesen litt schon immer unsäglich, wenn es um Tierleid ging, mit ein Grund, mit 14 Vegetarierin zu werden. 

Regelmässig ereilte mich eine tiefe innere Traurigkeit und ich kämpfte immer wieder mit dem inneren Konflikt, wie ich denn glücklich, unversehrt und sicher sein durfte, während überall auf der Welt Tieren (und natürlich auch Menschen) derart viel Leid und Schmerz zugefügt wird. Mir war oft, ich würde mir den gesamten Weltschmerz auf mich laden und sah keine Möglichkeit, mich abzugrenzen. Wie sollte ich mich schützen, wie gelingt es mir wegzuschauen und einen "gesunden Abstand" zu diesen Dingen zu gewinnen, um nicht in der kompletten Depression und einem Mauseloch zu versinken?

Der Gedanke "dies würde dann erst recht niemandem helfen" rettet mich meist irgendwie, doch stets beschleicht mich das ungute Gefühl "das ist nicht genug".

Ich frage mich weiter, wie ein Mensch beschaffen sein muss, um solches überhaupt ausführen zu können. Es ist mir, hochsensibel oder nicht, unbegreiflich, wie ein Mensch ein Tier willentlich blutig schneiden kann. 

Wie sehr müssen deren eigene Grenzen, physisch und psychisch, übertreten worden sein, wie sehr wurde auch ihnen nicht mit Empathie und Liebe und Achtung vor den eigenen Grenzen begegnet in der Kindheit, damit sie zu so etwas überhaupt fähig sind? Hinzu kommt natürlich der Druck, Arbeit zu finden, und sei es eine solche, der Druck der Armut, das Nicht-Wissen und Nicht-Hinterfragen. Hier drängt sich auch die Parallele zur Mädchenbeschneidung auf, wo dieselbe Thematik greift. Und natürlich sind die Arbeiter lediglich die "Ausführenden", die Exekutive. Diejenigen, die das veranlassen, sind die Entrepreneure, und in vielen Geschäften geht es nun mal um Profit. Darum, wieviel Wolle man aus einem Schaf heraus- bzw. von einem Schafskörper herunterholen kann. Was interessiert da, ob dem Schaf als Lamm unvorstellbarer Schmerz zugefügt worden war. Ein versehrtes Schaf ist immer noch besser als ein totes Schaf.

Ich nähere mich dem, zugegebenermassen hochkomplexen Thema gedanklich immer wieder aus verschiedenen Richtungen. Wir treffen Traditionsdenken, "das Tier empfindet keinen Schmerz wie ein Mensch", "es ist ja "nur" ein Nutztier, "das hat man immer schon so gemacht", und natürlich eben Profitdenken...und das sind beileibe nicht alle Perspektiven, die man einnehmen könnte, wenn es um Tierleid geht. 

Was kann ich tun? Was kannst du tun, wenn du ähnlich empfindest? Wolle boykottieren? Das Ding von "der Konsument hat mehr Macht als er denkt"? Nach Firmen und Produzenten suchen, die ausdrücklich "mulesingfreie" Merinowolle verwenden und verkaufen?

Auf jeden Fall.

Aber ist das genug? In diesem Artikel soll es nun nicht ausschliesslich um das Mulesing gehen, sondern um das Leiden der Tiere allgemein und was ich als empfindsamer mitfühlender Mensch dagegen tun kann, nebst "weniger Fleisch essen, mich informieren, keine Qualzuchten unterstützen..."

Ich kann weder die ganze (Tier)welt retten noch nützt es irgend einem Tier, wenn ich mich vor lauter Weltschmerz nur noch depressiv in meiner Wohnung verbarrikadiere.

Es geht auch noch um etwas anderes. Um etwas Grösseres, Umfassenderes, was den Bogen spannt zur Thematik dieses Blogs. Es geht auch hier wieder um die Hinwendung zu mir selbst, zu meinem Unterbewusstsein, meinen eigenen Verletzungen, denn jede Verletzung, jedes Glaubensmuster produziert bestimmte Handlungsmuster, Kompensationsmuster, Projektionsmuster, Abwehrmechanismen. Ich kann mich selbst und meine Verletzungen und Traumata heilen, in meine Mitte kommen, ein positives Feld aufbauen und andere Menschen animieren, dasselbe zu tun. Denn wenn Verletzungen in sich selbst geheilt werden, müssen sie nicht mehr weitergegeben, nicht mehr ausagiert und kompensiert werden an Schwächeren, man wird empfindsamer, mitfühlender und nimmt nicht nur seine eigenen, sondern auch die Grenzen jedes anderen Lebewesens bewusster wahr und ist imstande, sie zu respektieren. Man geht wacher durch die Welt und wird immer sensibler dafür, wo Grenzen anderer Lebewesen massiv übertreten werden.

Ich glaube es geht um eine Art "Bewusstseinsrevolution." Vieles, was in den vergangenen Jahrzehnten unverarbeitet weitergegeben wurde, kommt jetzt auf den Plan, um endlich transformiert zu werden. Und glücklicherweise lassen sich immer mehr Menschen von der unglaublich transformatorischen Energie des Jahres 2020 mitreissen!

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