Du kannst nichts verpassen

Ich habe vor einiger Zeit von der wunderbaren Sinje Miebach ein Live auf Facebook über dieses Thema gesehen: 

"Du kannst nichts verpassen."

Das ist eine Sichtweise, die in unserer Gesellschaft gefühlt oft inexistent ist. Alle rennen irgendetwas hinterher. Sind im ständigen Aktionsmodus, meinen, noch das und das und das und das erreichen zu müssen oder haben zu wollen, oder so vieles machen zu müssen, weil sie den Anschluss verpassen könnten, weil sie nicht gut genug sein könnten, weil "die Konkurrenz nicht schläft", weil "man doch ajour sein muss". Unser gesamtes System funktioniert gewissermassen so. Auch grosse Teile unseres Gesundheitssystems. Man schluckt Pillen, um die Kopfschmerzen wegzumachen, damit man wieder (oder weiter) einsatzfähig ist. Man schluckt Medikamente gegen Magenschmerzen, damit die Magenschmerzen weggehen, damit man leistungsfähig bleibt. Und da könnte man noch x weitere Beispiele aufzählen. 

Dabei ginge es im Grunde um etwas ganz anderes. Es ginge darum, sich Zeit zu nehmen, um herauszufinden, wo in meinem Leben etwas so sehr nicht stimmt, was mir einen derartigen Stress bereitet, dass der Magen mit Schmerzen reagiert. Genau hinzuschauen, und gegebenenfalls da etwas zu verändern. Aber darauf wurden wir nicht konditioniert. Das hat uns niemand wirklich beigebracht.

Es geht hierbei um dieses Vertrauen, dass du einerseits immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort bist, dass, wenn etwas Unvorhergesehenes geschieht, es aus irgend einem Grund gerade so sein soll, und andererseits, quasi als Erweiterung, um eben dieses: du kannst nichts verpassen. Das was in dein Leben kommen soll, wird sowieso kommen. Und wenn du es gefühlt in der ersten (oder auch zweiten) Runde "verpasst", wird es in anderer Form wiederkommen.

Auch dies hat in gewissem Sinne mit einer Art Urvertrauen zu tun.

Mir hilft das enorm, immer wieder bewusst in diesen Entspannung zu gehen, wenn ich merke, dass "die Macherin" in mir Überhand nehmen will. Dass ich zu viel auf einmal will. 

Slow down.

Du musst nicht auf allen Hochzeiten gleichzeitig tanzen.

Du kannst nichts Wichtiges verpassen. 

Lass das mal sacken. Auch wenn du im Kopf vielleicht (noch) nicht daran glaubst. Nimmt das nicht Druck raus? Hilft das nicht auf einer bestimmten Ebene, einen Gang zurückzuschalten?

Vielleicht helfen diese Zeilen einigen von euch, die einfach nicht aus dem Hamsterrad herauskommen, die auch dieses Gefühl in sich tragen, nirgends hinterherzukommen, immer hinterherzuhinken oder eben: die meinen etwas zu verpassen, wenn sie nicht noch diese Einladung annehmen, jene Networking-Möglichkeit nicht wahrnehmen, das Jobangebot ausschlagen oder bei diesem einen Meeting noch schnell zusagen, obwohl sie schon halb am Boden liegen.

Weil sie eben meinen, ohne diese Dinge gehe es nicht. Weil sie meinen, wenn sie diese eine Möglichkeit verpasst hätten, sei es aus und vorbei. Mitnichten.

Es gibt so viele tausend Möglichkeiten, wie Leben funktionieren bzw. "weitergehen" kann. Warum haben wir oft so einen "Tunnelblick", dass es nur auf die eine Art gehen kann, auf die nämlich, die wir im Kopf haben?

Auch darüber habe ich mit Sinje gesprochen, bzw. habe es indirekt "live" miterlebt, als bei ihr das Internet ausgefallen war. Erst war sie ein bisschen in Panik darüber, was alles sie jetzt gerade NICHT mehr tun konnte (in Verbindung bleiben, für die Gruppe arbeiten, Austausch gewährleisten usw.), aber da sie schon einige Jahre Erfahrung hat mit diesem "akzeptieren was ist", hat sie dann relativ schnell den switch hinbekommen: was GUTES kann daraus entstehen, dass mein Internet jetzt gerade nicht funktioniert? Welche Dinge gibt es da zu entdecken?

Will das Leben mir gerade zeigen, dass ich mir mehr Ruhe gönnen muss?

Oder geht es vielleicht sogar darum, von meiner Umwelt etwas anderes bekommen zu dürfen, als ich meine bekommen zu dürfen? Nämlich Mitgefühl und ein "es ist alles gut, aus irgend einem Grund sollte das jetzt so sein, entspann dich", anstatt Ärger und Frustration oder gar Vorwürfe?

Geht es um einen Glaubenssatz, den ich loslassen darf?

Um ein "Ich erlaube mir, auf eine neue Art mit dem umzugehen, was das Leben mir präsentiert?"

Ja, Sinje "verpasste" vielleicht gerade den Austausch mit uns in der Gruppe, verpasste es, zu posten und Posts zu lesen, aber - war das wirklich so wichtig in dem Moment? Wenn sie den Blick allein aufs "halb leere Glas" gerichtet hätte, wäre sie wohl endlos frustriert gewesen. So aber konnte sie die Chancen erkennen, die ihr dieses scheinbare "Verpassen" boten.

In Widerstand zu gehen zu einer Sache, die sich nicht ändern lässt, ist sowieso etwas, wovon ich je länger je mehr erkenne, wie wenig sinnvoll es ist und wieviel Energie es mir raubt, die ich anderswo einsetzen könnte.





Ja, die Natur schläft auch gerade noch da draussen. Und es mag etwas abgedroschen oder gar an den Haare herbeigezogen klingen, mir hilft es aber trotzdem manchmal, mir immer wieder bewusst zu machen: die Natur funktioniert nach bestimmten Gesetzmässigkeiten. Wenn Winter ist, ist Winter. Hat es einen Sinn, mit dem Winter zu hadern, gegen ihn anzukämpfen, ständig schlechte Laune zu haben deswegen?

Nein. Der Frühling kommt dann, wenn es Zeit ist. 

Und wenn jetzt Winter ist, dann mache ich das Beste aus dem Winter, und hadere nicht damit dass ich noch immer nicht im Kleid raus kann.

Und wenn gerade etwas in meinem Leben ist, was mir nicht gefällt, ich aber nicht wirklich etwas daran ändern kann, ist es dasselbe Prinzip. Hadern nützt nichts.

Ein Extrembeispiel für dieses Thema sind Krankheiten oder Unfälle. 

Was passiert? Wir gehen so oft in Widerstand. Wir wollen diese Krankheit nicht, weil "wir ja sooo viel zu tun hätten, was jetzt alles liegenbleibt, Hilfe, wie soll denn das gehen, ich muss so schnell wie möglich wieder einsatzfähig werden, sonst verpasse ich ja den Anschluss, und ohne mich geht es ja sowieso nicht, und und und..." Vor allem wir Mütter tun uns da oft entsetzlich schwer, die Zügel aus der Hand zu geben. Und einfach zu kapitulieren. Und loszulassen.

Denn es ist andersherum. Jede Sache, die von Aussen in unser Leben kommt und uns quasi "zwingt", uns hinzulegen, ist genau dazu gedacht: um uns zur Ruhe kommen zu lassen, zu einer Ruhe, die wir uns selbst sonst vielleicht nie zugestanden hätten. Damit wir loslassen von diesem ewigen "machen müssen."

Und damit wir uns auf diese eine Sache konzentrieren, die jetzt gerade im Vordergrund steht: Ruhe und Erholung. DAS ist für unser Leben gerade entscheidend. Nicht das, was wir durch den Ausfall "verpassen" oder "nicht erledigen" können. 

Auch dies hat viel mit "Akzeptieren was ist", mit annehmen und "im Fluss des Lebens bleiben" zu tun. Wenn wir hadern oder dagegen ankämpfen (oder sogar Medikamente schlucken, nur um weiter "leistungsfähig" zu bleiben) geben wir dem Leben und uns selbst keine Möglichkeit, hinzuschauen worum es in dem Moment wirklich geht. 

Diese Sichtweise setzt irgendwie voraus, dass man davon ausgeht, dass alles im Leben einen bestimmten Sinn hat. Auch wenn man ihn nicht immer sofort sieht.


Ich persönlich glaube nicht (mehr) an Zufälle. 

Diese Dinge, die nicht so laufen, wie wir wollen, wollen uns meiner Ansicht nach im Grunde zwei Dinge beibringen:

"Akzeptieren, was ist", Tempo rausnehmen

und

die Betrachtungsweise ändern in "was Gutes kann daraus entstehen weil das jetzt gerade nicht funktioniert?""

Seit ich diese Dinge übe und immer besser darin werde, hat sich mein Leben enorm gewandelt, hinsichtlich Stress, Druck und Ärger. Und ich sehe plötzlich so viel mehr Möglichkeiten, wie man mit auf den ersten Blick "eklig" erscheinenden Situationen umgehen kann.

Ein konkretes Beispiel aus meinem Leben war die Schulschliessung wegen Corona. 

Das ist für mich persönlich der Supergau. Nicht weil ich meine Kinder nicht liebe, nicht weil ich es nicht liebe, Zeit mit ihnen zu verbringen, aber weil es mich, bedingt durch meine Hochsensibilität, enorm anstrengt, rund um die Uhr beide Kinder zu betreuen. Natürlich ist es nicht so dass sie mich ständig belagern. Und sie können auch durchaus schon eine Zeit lang allein spielen. Ebenfalls haben wir bestimmte Zeiten ausgemacht, wo ich eine Weile Ruhe brauche. Aber trotzdem.

Was habe ich anfangs gehadert mit dieser Situation. 

Habe Me-Time und Ruheinseln davonschwimmen sehen und mich mit einem Berg an Fremdbestimmtheit konfrontiert gesehen. Ich habe damit gehadert, dass mein Business so ja nicht mehr vorangehen kann, ich Aufträge verpasse, zu wenig Zeit für Advertising habe, die Zoomcalls nirgends mehr unterkriege, keine Exklusivzeiten für ein einzelnes Kind mehr gewährleisten kann...

Und dann bin ich in die Akzeptanz gegangen. Ich habe aufgehört mich zu ärgern, und habe stattdessen angefangen mir zu überlegen, was jetzt die Schätze sein könnten, die in dieser Situation gehoben werden wollen. Was jetzt gerade das eigentliche Thema sein könnte. Nicht dass dies leicht war. Das gelang auch mir nicht einfach mit einem Fingerschnippen. Aber es war sozusagen die einzige Wahl die ich hatte, anstelle von "in der Depression versinken."

Die Kinder haben oft gestritten, waren laut und anstrengend, aber anstatt in die Opferrolle und in die Verzweiflung darüber zu gehen, dass ich diesen Lärm kaum ertrage, hab ich mich mit ihnen hingesetzt, und über mein Befinden mit ihnen gesprochen. Das ist eins meiner Lernfelder, mit denen ich mich sehr schwer tue: mich zu trauen, offen und ehrlich über meine Gefühle zu sprechen und auch vor meinen Kindern mal einzugestehen, dass ich gerade überfordert bin und nicht weiterweiss. 

Und es sind die wunderschönsten Gespräche entstanden, wir haben Rituale entwickelt und Möglichkeiten, wie es für alle friedlicher und stressfreier werden könnte. Es war irrsinnig beglückend, zu sehen, was alles daraus entstehen konnte, weil ich mich einfach geöffnet habe für dieses "was Gutes könnte aus dieser Situation entstehen, die mir so gegen den Strich geht (Schulschliessung)"? Es hat den Kindern gut getan, da ich aus dieser "Polizistenrolle" raus bin ("seid leiser", "tut dies nicht, tut das nicht"...) und sie sich einbringen konnten, und es hat mir gut getan, weil ich authentisch sein durfte. Alle fühlten sich plötzlich mehr gesehen.


Es war also das, was jetzt für uns gerade im Vordergrund stand. 

Und plötzlich war die Schulschliessung kein Grundübel mehr, sondern ein wunderbarer Nährboden, damit etwas Neues entstehen konnte. 

Und immer wieder habe ich mich auch in der Entspannung geübt hinsichtlich meines Business. Das Business kann gerade warten. Es schwimmen mir keine Aufträge davon. Die werden kommen, sobald ich wieder Kapazität habe.


Denn ich kann ja nichts verpassen!


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Alle Fotos by SelinaDacy

Sprüche aus Instagram: FlowFinder, Das Leben ist ein Gefühl und Wir_Manifestieren


Kommentare

Sinje Miebach hat gesagt…
Was für ein wundervoller Artikel☺️❣️ Und beinahe hätte ich ihn verpasst…😅. Aber eben nur beinahe - denn ich kann ja nichts verpassen 🙃‼️
Vielen Dank für deine Geschichte 🙏🏼‼️
Selina Dacy hat gesagt…
Liebe Sinje danke dir herzlich für deinen Kommentar. Das ist DEIN Artikel denn du hast mich dazu inspiriert! 🙏🏾♥️🤗

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