Wie geht Urvertrauen?

Wie geht Urvertrauen?

Und: kann man das zurückgewinnen, wenn es einmal zerstört wurde bzw. verloren gegangen war?

Ich behaupte ja. Und damit möchte ich Mut machen; ich möchte nicht von meiner Geschichte verallgemeinern auf alle Menschen; ich möchte aber zeigen, dass es in meinem Fall durchaus so war und ich heute, mit 38, von mir sagen kann dass ich das Urvertrauen in die Menschen, mich und die Welt wiederhabe, nachdem es mir als Baby genommen worden war.

SelinaDacy mit 5 Monaten im Kinderheim in Panjim, Indien 

Die Zerstörung des Urvertrauens geschieht in ganz jungen Jahren bzw. Monaten beim Säugling. Sei das durch das Nicht-Stillen von elementaren Bedürfnissen wie Nähe, Liebe, Sicherheit und Nahrung; sei das durch Trennungserfahrungen oder Vernachlässigung oder gar Misshandlung. 

Hier ein Ausschnitt davon, was Wikipedia dazu sagt, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, sondern einfach um eine Idee zu geben, denn mir geht es hier ja nicht darum, einen wissenschaftlichen Artikel zu schreiben, sondern einen Erfahrungsbericht:

"Urvertrauen entwickelt sich bei beiden Ansätzen im sehr frühen Kindesalter durch die verlässliche, durchgehaltene, liebende und sorgende Zuwendung von Dauerpflegepersonen (zumeist den Eltern). Es verschafft die innere emotionale Sicherheit, die später zu einem Vertrauen in seine Umgebung und zu Kontakten mit anderen Menschen überhaupt erst befähigt. Urvertrauen ermöglicht angstarme Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt.

Es ist also die Grundlage für:

  • Vertrauen auf sich selbst, Selbstwertgefühl, Liebesfähigkeit („Ich bin es wert, geliebt zu werden.“ „Ich fühle mich geborgen.“),
  • Vertrauen in andere, in Partnerschaft, Gemeinschaft („Ich vertraue Dir.“ „Wir lieben uns.“, „Ich weiß mich verstanden und angenommen.“) und
  • Vertrauen in das Ganze, in die Welt („Es lohnt sich zu leben.“)

Lieblosigkeit, Vernachlässigung oder Misshandlung können zu einer mangelhaften Ausbildung des Urvertrauens führen. Hiermit können Beziehungs- und Bindungsprobleme von Menschen erklärt werden. Folgestörungen können Misstrauen, Depressionen, Angstzustände, Aggressivität u. a. m. sein.

Therapeutisch kann solchen Missentwicklungen der frühesten Kindheit mit dem Konzept des Containing begegnet werden.

Der Unterschied beider Ansätze liegt jedoch darin, dass der Soziobiologe Claessens eine Fehlentwicklung des Säuglings bereits deutlich früher (nach Abschluss des ersten Lebensjahres) als nicht mehr behebbar ansieht, als der Psychoanalytiker Erikson."


Ich selbst hatte 37 Jahre meines Lebens kein Urvertrauen. Dieses war einst, durch die Trennung von meinen leiblichen Eltern in Indien, zerstört worden, und meine Adoptiveltern haben mir einen Riesenschatz an Sicherheit und Vertrauen geschenkt, aber ganz kompensieren konnten sie es nicht. Aber das merke ich erst jetzt, im Rückblick. Und es kann ihnen auch in keinster Weise ein Vorwurf daraus gemacht werden; der Bruch war bereits passiert, als sie in mein Leben kamen, der Schmerz war in mir. 
Jedes adoptierte Kind hat in irgend einer Form einen Bruch erlebt. Hat in irgend einer Form das Urvertrauen ganz oder teilweise eingebüsst, denn es wurde aus seiner Umgebung und von den engen Bezugspersonen weggerissen. Das ist ein Fakt. Und ein Fakt ist auch, dass Adoptierte (natürlich auch sonstige Menschen bei denen in jungen Jahren das Urvertrauen zerstört wurde) viele Kompensationsstrategien entwickeln, um zu überleben bzw. mit diesem Schmerz umzugehen.

Ich selbst liess mich deshalb mein halbes Leben lang mehrheitlich von Angst leiten und stressen, vielleicht auch von Misstrauen dem Leben gegenüber, versuchte irgend etwas hinzukriegen, von dem ich dachte, dass es das Leben sei bzw. dass "Leben sich halt so anfühle". Ich litt unter Bindungs- und Verlustangst, und ich hatte viele Strategien entwickelt, wie "mich besonders anstrengen", "immer gute Leistungen bringen in der Schule", "besonders pflegeleicht sein bzw. keine Schwierigkeiten machen", um die Wertlosigkeitsgefühle in Schach zu halten. Ich misstraute vielen Menschen, hatte kein Selbstvertrauen und vor allem ging ich lange und in vielen Situationen davon aus, dass "das Leben mir übel mitspielt" bzw. ich "einfach nicht so viel Glück habe wie andere Menschen."

Um mein Urvertrauen zurückzugewinnen und diese alten Geschichten, die ich mir da erzählte, endlich loszulassen, musste ich noch einmal in den tiefsten Trennungsschmerz hinein.

Es reichte nicht, die oberflächlichen Schichten abzutragen. Dies hatte ich schon lange Zeit getan; in Familienaufstellungen, Psychotherapie, Ehetherapie, Kunsttherapie und vielem mehr, und jedes einzelne Element war nicht umsonst gewesen und half mir weiter, aber es reichte nicht. Ich musste bis ganz hinunter. Und ganz hinunter gelangte ich nur durch die Abrissbirne, die alles hinwegfegte, was ich mir an Leben zusammengebastelt hatte und die mich auf direktem Wege ins Meer hineinkatapultierte, in mein tiefstes Unterbewusstsein.


by SelinaDacy


Und ich bin getaucht, tief hinab, in die allertiefsten Schichten, bis zum Meeresgrund. Und im Auftreffen auf den sandigen Boden, im Zerschellen und gleichzeitigen Heilen dieses Moments, des Moments wo ich von meinen Eltern verlassen worden war, im Ankommen am Grund und, vollkommen bei mir und meinem tiefsten Selbst und gleichwohl meiner tiefsten Wunde gelandet, geschah das Magische. Ein zartes, zaghaftes Urvertrauen stellte sich ein und wuchs leise, trug mich empor, liess mich langsam wieder auftauchen, und mit jedem Meter, den ich zurücklegte, zurück zur Wasseroberfläche, hin zu einem neuen Selbst, liess ich Schicht um Schicht meiner alten, begrenzten Persönlichkeit los, liess Glaubenssätze von Wertlosigkeit, Kleinheit, Ungeliebt sein los, und Stück um Stück wurde es dadurch wieder freigelegt, dieses Urvertrauen, Schrittchen für Schrittchen befreit von all der Angst, dem Schmerz des Verlusts, all dem Zweifeln und Anhaften an vermeintliche Sicherheiten, die aus der Angst heraus geboren worden waren, wieder verlassen zu werden. Erneut das gleiche Schicksal zu erleiden. 

Das was ich jetzt so locker flockig hinschreibe war ein zäher Prozess und der grösste Kampf meines Lebens. Und der grosse Wendepunkt geschah im Fühlen und Annehmen dieses tiefsten Schmerzes; nicht indem ich auf rationalem Weg begriff; nicht indem ich mich jahrelang mit meiner Vergangenheit auseinandersetzte. Sondern indem ich diesen Schmerz in mir noch einmal durchfühlte und heilte. Und es ist gewaltig, wie sich mein Lebensgefühl seither verändert hat, das lässt sich kaum in Worte fassen, da gibt es nur Annäherungen, und auch die geben nur eine Ahnung davon, das muss man selber erleben.

Stück um Stück lernte ich auf diesem Boden wieder zu vertrauen. Loszulassen und zu vertrauen. Lernte die Nicht-Anhaftung, das Wachsen und Verändern und sich in den Strom des Lebens geben und auch er-geben.
Denn Angst ist meist die Illusion, irgend etwas kontrollieren zu können. 
Oder aber ein "mit den Gedanken ständig in einer Zukunft zu sein, die vielleicht nie eintreffen wird." Oder aber eine Art Schutzmechanismus, um sich vor erneutem Schmerz zu schützen. Bzw. alles zusammen.

Als ich bei Laura Malina Seiler den Satz las 

"Das Leben ist immer FÜR dich, nicht gegen dich"

und ihn tief verinnerlicht hatte, begriff ich (nun auf rationalem Weg), dass ich im Grunde gar keine Angst zu haben brauchte. Weder vor Verlust noch vor falschen Entscheidungen, denn alles, was in meinem Leben sein soll, wird kommen, früher oder später, und alles, was nicht da sein soll, wird sich verabschieden, und das ist gut so, und ja, manchmal muss man auch durch negative Erfahrungen, aber das heisst deswegen nicht, dass diese gegen mich sind. 




Denn oft zeigt uns eine negative Erfahrung, wo der Weg weitergeht. Wenn ich mich an etwas klammere was gehen will, schwimme ich gegen den Strom, und das Leben ist schwer und ein Kampf. Der eigentliche Schmerz liegt im Hadern, im festhalten und nicht loslassen wollen von Dingen, die sowieso gehen wollen.
Irgendwo hab ich mal folgenden Satz gelesen: 

Reisende sollte man nicht aufhalten. 

Dieser Satz hat auch einen grossen Teil meines Lebens verändert. Plötzlich begriff ich nämlich auch, dass ich wirklich sehr gut unterscheiden lernen muss, wofür es sich lohnt zu kämpfen, und was ich einfach gehen lassen kann, weil es gar nicht in mein Leben gehört. Viele von uns kämpfen, teilweise vergeblich, um Partner, Jobs, wenden wahnsinnig viel Energie dafür auf, und merken dadurch nicht, wann sie loslassen müssen. Es ist zugegebenermassen auch eine der schwierigsten Disziplinen, die es im Leben zu lernen gilt.

Wenn ich davon ausgehe, dass das Leben immer FÜR mich ist, führt mich das zu der Kunst, mit deren Erlernen ich mich seit zwei Jahren beschäftige und die zu Beginn so ultra-schwer ist: in jeder schwierigen, schlimmen Situation knallhart nach dem positiven Aspekt zu suchen.



Das Leben ist gut zu mir. Und das Leben ist für mich. Immer.
Versuche diese Betrachtungsweise einzunehmen. Falls es dir schwerfällt, mach einfach wieder das "Was wäre wenn" -Gedankenspiel.
Was wenn es wirklich so wäre? Selbst schmerzliche Erfahrungen sind dann FÜR mich, denn sie lassen mich wachsen, nach neuen Möglichkeiten suchen, über meine Grenzen hinauswachsen und diese neu stecken, lassen mich gleichsam auch verständnisvoll und tief empathisch werden für Menschen, die durch das Gleiche gehen, lassen mich auch immer wieder neu erkennen, dass ich nicht dieses kleine begrenzte Ego bin, das ich als meine Persönlichkeit wahrnehme, sondern so unendlich viel mehr. Ich entdecke neues Potential in mir.

                                                      

Eine weitere Disziplin, die, auf Basis des Urvertrauens immer wieder trainiert werden kann ist: ich entscheide mich fürs GLÜCK. Radikal. Immer. In jeder einzelnen Situation.
Das beinhaltet ebenfalls, dass ich das krampfhafte Festhalten gehenlasse.
Viel viel Schmerz in unserem Leben entsteht, weil wir an Dingen und Menschen festhalten, vor allem aber auch: weil wir unser Glück von ihnen abhängig machen!
Sei das der Job, der Partner, die gute Gelegenheit, das "Alte", Vertraute, oder auch liebgewonnene Gewohnheiten...
Das Positive in einer Situation entdecken kann ich vor allem dann, wenn ich die Fähigkeit zur Kunst mache, mein Glück nicht länger abhängig vom Aussen zu machen. Da sind wir dann wieder bei "das Glück beginnt in dir" bzw. "niemand anders kann dich glücklich machen ausser du selbst" oder auch "Happiness is an insidejob". 
Diese Kunst befähigt mich beispielsweise, mein Herz offen zu halten, auch wenn mein Partner geht. 
Wenn ich meinen Partner "brauche", damit ich mich nicht allein und ungeliebt fühle, damit ich mich glücklich fühle, dann mache ich meinen inneren Zustand komplett von ihm abhängig.
Wenn er geht, geht auch mein ganzes Glück/Selbstvertrauen/Sicherheit.
Wenn das der Fall ist, dann bin ich nicht in der Liebe, sondern in der Angst, und ich benutze meinen Partner für etwas, was mir selbst fehlt. 
Wenn ich aber fähig werde, mein eigenes Glück nicht (mehr) von einer bestimmten Situation oder einem bestimmten Menschen abhängig zu machen, sondern es in erster Linie in mir zu generieren, kann ich solch
eine schmerzhafte Situation plötzlich mit einem neuen Blick und einer neuen Kraft betrachten betrachten:
Was Wunderbares hat dadurch, dass er gegangen ist, die Chance, in mein Leben zu treten? 
Oder auch: was Wunderbares wird daraus entstehen, wenn ich jetzt, in der Coronazeit, meinen Job verliere?
Auch das beinhaltet für mich Urvertrauen.
Und dabei geht es nicht unbedingt darum, krampfhaft positiv zu denken; denn auf den ersten Blick ist es vielleicht einfach mal eine Katastrophe, was gerade passiert. Und das ist okay. Nicht hadern bedeutet nicht, keinen Schmerz empfinden zu dürfen. Nicht hadern bedeutet für mich aber, nicht in diesem Schmerz steckenzubleiben und in die Opferhaltung zu kippen.
Es geht eher darum, dass ich, wenn ich diesen neuen, positiven Blickwinkel habe, diese Denkweise bzw. dieses Mindset, beginne, ganz andere Entscheidungen zu treffen. Ich kann auf andere Art an die Sache rangehen, nämlich mit Mut und Motivation anstatt mit Trauer, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Und dann sind wir schon wieder beim Resonanzgesetz:)

Urvertrauen hat für mich heute auch damit zu tun, dass ich weiss dass ich gar nicht scheitern kann. Wenn etwas schief geht - na, dann hab ich immer zwei Möglichkeiten: entweder ich verstehe es als Aufforderung, nicht aufzugeben und es wieder zu versuchen, oder aber als Aufforderung, dass dies nicht mein Weg ist, ich abbiegen muss und dadurch zu etwas anderem, besserem hingeführt werde. 
Urvertrauen hat für mich auch damit zu tun, dass ich darauf vertraue, dass ich, empfänglich auf der tiefsten mir möglichen Ebene, meinen Impulsen, die meiner Intuition entspringen, folgen darf und weiss, dass diese mich auf den richtigen Weg führen. Ohne Angst vor Misserfolgen.

                                                         

Im Loslassen, neu Erschaffen erkenne ich mich und meine Fähigkeiten immer tiefer, und gleichzeitig ermöglicht es mir, immer tiefer einzutauchen in diesen Fluss, der mich da hinbringt wo ich sein soll. 

Du bist genau da wo du im Moment sein sollst. Alles ist richtig so wie es ist. 

Und plötzlich geht das Leben so leicht! 

All diese Gewissheiten, und auch Affirmationen, die ich tief in mir verankere, ermöglichen mir heute eine Neugier, eine Leichtigkeit, ein komplett anderes Herangehen an bestimmte Situationen, die mir auf den ersten Blick wie das Ende der Welt erscheinen: die Frage "was Wunderbares kann dadurch entstehen? Auch wenn es vielleicht gerade irrsinnig schmerzt"?

Doch weiss ich nicht, ob die gleichen Affirmationen für mich in irgend einer Weise funktioniert hätten in meinem Leben "vor der Krise", ob sie für mich Sinn gemacht hätten damals, als ich kein Urvertrauen hatte. Für mich funktioniert das eine nicht ohne das andere. Einfach ein paar Affirmationen aufsagen geht nicht, wenn die grundlegenden Wunden nicht geheilt sind, denn dann glaubt das Unterbewusstsein weder an Glück noch daran, dass schlimme Erfahrungen etwas Positives in sich tragen. Das ist meine persönliche Erfahrung. 

Ich erkenne für mich heute, dass es vielfach meine Kompensationsmuster aus der Trennungserfahrung von meinen leiblichen Eltern waren, die ich mir gebaut hatte, damit sie mich vor erneutem Schmerz schützen sollen, und die einst überlebenswichtig waren, die mich aber mit der Zeit immer mehr bremsten und mich von dem Leben trennten, das ich mir erträumte. 
Mit dem Loslassen dieser Muster wuchs gleichsam die Erkenntnis: ich brauche sie nun nicht mehr. Sie waren wichtig. In meiner Kindheit, und vielleicht auch noch im jungen Erwachsenenalter. Sie haben mich beschützt, sie haben mich überleben lassen, und das war gut so, denn dadurch bin ich bis dahin gekommen, wo ich heute bin, aber sie haben nun ausgedient und dürfen gehen. 
Denn ich vertraue dem Leben, dass es immer FÜR mich ist. Egal was kommt.


by SelinaDacy
                               


Dieser Artikel ist lediglich ein kleiner Ausschnitt, oder Einblick in meine persönliche Geschichte; zu diesem Thema gäbe es ganze Bücher zu schreiben und man könnte es von vielen verschiedenen Seiten her beleuchten. Mir ging es vor allem um die Grundbotschaft: es ist möglich. Es ist auch für dich möglich. Falls dein Urvertrauen zerstört worden ist. Du musst aber bereit sein, dich mit dem Schmerz zu konfrontieren, der dieses Urvertrauen einst zerstört hat. 






Kommentare

Iris hat gesagt…
„Starke Menschen werden nicht einfach geboren.
Sie entwickeln sich aufgrund der Stürme, die sie überstanden haben.“

Danke für den wertvollen Artikel zum Thema Urvertrauen, der für mich sehr hilfreich und lesenswert ist.
Alles Liebe! ♥️
Selina Dacy hat gesagt…
Liebe Iris ja genau! Herzlichen Dank für deinen lieben Kommentar, es freut mich ganz tief, dass ich dich mit diesem Artikel, der mir sehr am Herzen liegt und vor allem, aus tiefstem Herzen kommt, inspirieren konnte. Alles Liebe auch dir!

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