Mein leiblicher Vater hat mich von ganzem Herzen geliebt


Wie im letzten post angekündigt möchte ich dir heute beschreiben, wie es mir gelang, mich mit meinem leiblichen Vater, den ich nicht einmal kenne, "rückzuverbinden" und diesen so abgespaltenen Teil von mir zurückzuerobern. Es ist sehr persönlich, aber das Unglaublichste, Berührendste was mir je in meinem Leben passiert ist. Und ich möchte es mit dir teilen.

In der Pubertät tauchte plötzlich dieser Vater an die Oberfläche eines Meeres, das ich bis dahin spiegelglatt und ruhig gewähnt hatte. Es übermannte mich gefühlt aus dem Nichts.



Der erste Trauerschub.

Und wieder eine Identitätskrise.
Wie nie zuvor sehnte ich mich plötzlich nach seiner in meiner Vorstellung starken Schulter, an die ich mich lehnen konnte, nach seinem Gegenüber, nach seinem Vorbild. Und vor allem nach einem EBENBILD. Danach, mich erkennen zu können in seinen Gesichtszügen. Wiederzuerkennen. Zu finden, und dadurch vielleicht neu zu erfinden. 


Ich weinte bittere Tränen. Um einen Vater, den ich nie gekannt habe, und wohl auch nie kennenlernen würde. War meine Mutter ein abstraktes Konzept, war mein Vater ein Nicht-Individuum. Eine Nicht-Existenz. Ein schwarzes unbekanntes Loch. 




In meiner Geburtsurkunde steht „Father unknown“.

Dieses "unknown" erfüllte mich stets mit einer diffusen Angst. Also verbannte ich es. Auf den Meeresgrund. Schwere Steine darübergepackt. Spiegelglattes Meer. Nichts passiert. Ich bin in Sicherheit.
Die Trauer verebbte irgendwann wieder. Wich wieder der Verdrängung, so war es leichter zu ertragen, und es hat ja doch keinen Zweck, und überhaupt...was soll ich jemandem nachweinen den ich gar nicht kenne?
Damals wusste ich noch nichts von irgendwelchen Frau Zurhorsts die mich dereinst so aufwecken würden.
Erst fast zwanzig Jahre später, im Zuge meiner Lebenskrise 2019, kam ich der schwärenden, offenen Wunde in mir wieder näher. Äusserer Schmerz. Innerer Schmerz. Und noch mehr äusserer Schmerz, der noch mehr inneren Schmerz hochholte. 

Dabei geht es um folgenden (psychologischen) Mechanismus:

Etwas das im Aussen (in der momentanen Situation) schmerzt, bedeutet immer einen Schmerz und eine Verletzung im Inneren, die meist in der Kindheit entstanden ist. Die äussere Situation holt den Schmerz nur hoch, hat aber direkt nichts damit zu tun!

Schicht um Schicht um Schicht wurde abgetragen, freigelegt, trockengelegt. Ich spürte es. Sie war fast schon greifbar, die Wunde.
Was mir jedoch immer bewusster wurde war, dass man sich diesem Prozess nur bedingt mit dem Kopf bzw. Verstand nähern kann.
So sehr ich es viele Jahre lang versucht hatte, ich konnte mich weder durch Familienaufstellungen, noch durch Coaching, noch durch Psychotherapie diesem Unbekannten widmen oder annähern. Damit möchte ich keinesfalls diese Therapieformen schlecht machen. Sie helfen. Sie unterstützen. Sie sind imstande, Schichten abzutragen. Auch mir haben sie ein gutes Stück auf meinem Weg weitergeholfen! Aber ich konnte dadurch nicht zum Kern vordringen. 
Diese Aussage betrifft nur meine persönliche Geschichte. 


Schliesslich passierte etwas auf den ersten Blick eigentlich recht Unspektakuläres, von dem ich nicht im Traum geahnt hätte, dass es mich mitten hineinkatapultieren würde in das, worum es wirklich ging.

Ein unendlich liebevoller Mensch nahm mich, nachdem ich ihm über meine momentanen Schwierigkeiten mein Herz ausgeschüttet hatte, einfach so in den Arm. 
Ganz fest.
Mir blieb fast die Luft weg. Zum einen weil die Umarmung so unverhofft kam und so voller Liebe, fest und kraftvoll war, zum anderen aber, weil etwas in mir mal wieder „klick“ machte. Einrastete.
Schlagartig machte sich in mir in diesem Moment eine einzige Erkenntnis breit:

DAS ist es was mir mein Leben lang gefehlt hat.

Es ging auch hier nicht darum, dass ich nie umarmt worden wäre. Ich war in meinem Leben von vielen Menschen sehr liebevoll umarmt worden, auch von meinem Adoptivvater. Es war eher eine Erkenntnis auf einer Ebene, zu der ich bis dahin keinen Zugriff gehabt hatte. 

Und es hatte etwas mit meinem leiblichen Vater zu tun.

Die Erkenntnis sackte in einer Art konzentrischen Kreisen immer tiefer in mich hinein. 
Da war es wieder. 
Da war SIE wieder. 
Die unendliche, unendliche Sehnsucht nach diesem leiblichen Vater.
Ein nie gekannter Schmerz wuchs in mir, schwoll an zu einer fast unerträglichen Intensität, ein wahres Monster bäumte sich in mir auf, ich wurde ins Meer des Vergessens hineingeworfen und sank, und sank, und sank, und jede einzelne meiner Zellen wusste plötzlich:




                                                                   by SelinaDacy
                                                                                                                              


da ist es! Das Adoptionstrauma! In voller Breitseite. Jetzt bin ich zum Kern vorgestossen. 

Jetzt bin ich am Meeresgrund angelangt.

Und es machte wieder klick, und noch einmal, und noch einmal, und Erkenntnisse, nach denen ich mein Leben lang verzweifelt gesucht hatte, waren plötzlich einfach da:

Die Verlustangst stammt von meiner Mutter.
Aber die Bindungsangst von meinem Vater.

Es geht vor allem um meinen Vater. Bei all meinen bisherigen Beziehungen war das Vaterthema in irgend einer Form präsent, in Form der Bindungsangst (entweder klammern oder flüchten).

Ich erkannte, dass ich in mir unbewusst folgenden Glaubenssatz verankert hatte:

Mein Vater hat mich nicht gewollt. Ich bin weggegeben worden. Also bin ich wertlos. Also kann mich auch kein anderer Mann wollen. Also ist es sicherer für mich wenn ich mich vor zu grosser Nähe schütze (oder aber so festhalte dass der andere nicht gehen kann). Da ich sowieso verlassen werde. 

Schmerz, gross wie der indische Ozean. Ich heulte, wie ich nie in meinem Leben geheult hatte.
Doch zu gross, zu mächtig, zu allumfassend und schneidend war dieser Schmerz, als dass er irgend etwas mit meiner momentanen Krise zu tun haben konnte, dieser Schmerz war uralt, mein unsichtbarer, unbemerkter, unerkannter Begleiter und Weggefährte über 37 Jahre lang. 
Endlich aus dem Meeresgrund, dem Untergrund, aus dem Schattendasein befreit. 

Je stärker die Verdrängung, umso stärkeren äusseren Schmerz braucht es wohl, um das Verdrängte wieder hochzuholen. Heilung kann aber nur geschehen, wenn man sich dem Verdrängten stellt. Wenn man, diesmal in vollem Bewusstsein, noch einmal durch den Schmerz hindurchgeht, ihn richtig fühlt, und dadurch annehmen und dann loslassen kann. 
Auch hier wieder diente mir das Buch "Liebe dich selbst und freu dich auf die nächste Krise" von Eva-Maria und Wolfram Zurhorst als Rettungsanker und Nachschlagewerk, durch sie wusste ich, dass ich auf dem richtigen Weg war. Sonst wäre ich wohl in diesem Schmerz versunken!

Durch meine äussere Krise war diese Wunde freigelegt worden, und ich konnte zum ersten Mal richtig in sie hineingehen, sie anschauen und somit endlich heilen.

                                                                  Boot am Palolem Beach, Goa

In diesem Prozess wurde mir auf einmal klar, dass ich ihn ins Boot holen musste. Diesen Vater. Denn bisher war es immer nur um mich und meine Mutter gegangen. Ich dachte immer, es gehe darum, die Verlustangst zu verarbeiten, die entstanden war dadurch, dass ich ihr entrissen worden war. Ich hatte „mütterlicherseits“ schon viel Trauer- und Traumaarbeit geleistet, viele Tränen um sie geweint und ihr einen Platz in meinem Herzen gegeben. Sie konnte ich fühlen. Wir waren eins. 

Mein Vater war immer dieses bedrohliche Nichts geblieben.



Ausschnitt aus meiner Biografiearbeit
Bild unten: mein Kinderheim in Goa

Intuitiv begann ich ihn zu malen. Ich malte ihn, und ich malte mich, wie ich als kleines Kind an seiner Hand laufe.
Ich merkte, wie etwas in mir aufbrach. Ich malte meine Mutter dazu, die mich an der anderen Hand hielt. Das was in mir aufgebrochen war, begann zu fliessen. 
Ich malte ein weiteres Bild, auf dem sich meine Eltern, Vater und Mutter, umarmen und mich dabei auf ihrem Schoss halten. Um die kleine Familie malte ich ein leuchtendes Herz. 
Wir sind drei. Nicht zwei.


In diesem Moment fühlte ich wie etwas in mir ganz wurde.


Zum ersten Mal in meinem Leben war meine Familie komplett.
Das kann man nicht in Worte fassen, es geschah nicht auf Verstandesebene, dieses Trauma war ja auch nicht etwas, was das kleine Baby kognitiv hatte erfassen können, es war nur erlebbar, fühlbar, erfahrbar, aber es heilte, heilte, heilte die offene Wunde, heilte das Bodenlose, heilte das Wurzellose! Und es heilte später auch die Bindungsangst.

Und in mir breitete sich die Gewissheit aus: 

Mein Vater hat mich geliebt, auch wenn er mich hatte weggeben müssen! Zu jener Zeit, unter jenen (mir unbekannten, wahrscheinlich widrigen) Umständen, hatte er sein Allerbestes gegeben, mir das allerhöchste Mass an Liebe mitgegeben, derer er fähig war. 
Und das war gut genug. 
Liebe muss nicht heissen, das ganze Leben lang physisch anwesend zu sein. Seine Liebe bestand darin, dass er meine Mutter nicht nötigte, mich, ein Mädchen, in einem Indien der 80-er Jahre abzutreiben. Seine Liebe bestand darin, dass er sie in dieses Heim gehen liess, wo sie mich 5 Monate lang stillte. Seine Liebe bestand darin, dass er sich nicht zeigte, da das meine Mutter wahrscheinlich in Schwierigkeiten gebracht hätte.
Und das war so genug!

In diesem Moment konnte ich auch ihn in meinem Herzen fühlen. Und ihm vergeben
Und der Boden, der mir mein ganzes Leben lang gefehlt hatte, das Fundament, war plötzlich da, und gleichzeitig fühlte ich, wie mir eine Art von Stärke und Kraft zuwuchs, die ich bis dahin nicht gekannt hatte! Mein Baum hatte Wurzeln bekommen.
Es berührte mich im Innersten. 

Ich habe seither eine Verbindung zu ihm, die der Verstand nicht begreifen kann. Aber das Herz kann es. Und ich fühle mich geliebt, von Vater und Mutter, in meinem Herzen. Ich kann ihre Liebe spüren, und ich kann sie anzapfen, um sie weiterzugeben. Meine Eltern haben mich mit einer riesengrossen Liebesfähigkeit ausgestattet, in der kurzen Zeit, die ihnen möglich war.


Und das war gut genug.


Alle Fotos by SelinaDacy

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