Mama


Meine leibliche Mutter hat mich in den ersten fünf Lebensmonaten gestillt. Die Psychologin, bei der dieser Teil meiner Geschichte Thema war, sagte später, meine Mutter habe mir in diesen 5 Monaten ihre ganze Liebe mitgegeben, die reiche aus für ein ganzes Leben und das Ausmass sei unendlich. Eine liebe Freundin sagte mir später, unabhängig von dieser Psychologin, genau dasselbe. Ganz intuitiv.
Irgendwie fand ich das faszinierend.
Es lag viel Trost darin.


Das Kinderheim in Panjim, Goa, wo ich die ersten fünf Monate meines Lebens verbrachte


Und trotzdem...ich war ihr entrissen worden. Quasi von der Mutterbrust weg. Von einem Tag auf den anderen war mir das Liebste, was ich auf der Welt hatte, weggenommen worden. 
Eine unglaublich traumatische Erfahrung.
Die Gratwanderung, auf die man sich begibt wenn man in dieses Thema eintaucht ist immens. Die Schuldgefühle, die da begleitend (bei mir) aufsteigen sind nicht minder immens. Manchmal scheint es mir als zerreisse es mich zwischen den beiden Wahrheiten (siehe post "Die zwei Wahrheiten im Leben von Adoptierten").
Wie kann ich darüber schreiben, ohne meine Adoptivmutter zu verletzen, ohne nunmehr SIE mit Schuldgefühlen zu überfrachten, mich dieser meiner Mutter weggenommen zu haben?

Auch den Umgang mit solch schwierigen Gefühlen lernte ich erst als ich schon weit über dreissig war.
Ich musste lernen, klar zu trennen, was meins war, und wo ich mich abgrenzen und die Gefühle dem anderen überlassen durfte. Ich, die ich mein halbes Leben lang meine eigenen Grenzen nie richtig hatte wahrnehmen können. Dieses „wo höre ich auf und wo fängt der andere an“ war mir so fremd, ich hatte kein Gespür dafür, mit ein Grund dafür, in diese Krise geraten zu sein. Genau dies musste ich jetzt auf die ganz harte Tour lernen.
"Ich darf traurig sein. Ich darf meinen Schmerz fühlen und ich darf allfällige Schuld- oder andere Gefühle, die das bei meiner Adoptivmutter auslöst, bei ihr lassen."
Dem anderen die eigenen Gefühle zugestehen.
Was sich jetzt so leicht und flüssig niederschreiben lässt, war ein unglaublich bitterer, schwieriger, herausfordernder Prozess für mich.
Ich hatte mein Leben lang die Emotionen anderer Menschen auf mich geladen.
Mein Raum existierte nicht.
Ich führe auch diese Schwierigkeiten auf das abrupte Entrissen werden von der Mutter zurück, in einer Lebensphase, wo Mutter und Kind eine Symbiose bilden und das Baby noch absolut kein Bewusstsein darüber hat, wo es aufhört und die Mutter anfängt. Das Konzept vom „Ich“ und vom „Du“ kennt es noch nicht. Dieses Bewusstsein bildet sich erst im Alter von zwei bis drei Jahren richtig aus.
Wahrscheinlich hatte bei mir dieser Prozess, da jäh unterbrochen, gar nie richtig ablaufen können. Wahrscheinlich geht es vielen von uns (Adoptierten) so.

Zurück zu meiner Mutter.
Zu dieser Mutter, die mich geboren hat. Sie war jung, meine Mutter. 18, 19. Und klein. Sie heisst Jennifer Dias, und wäre in dem Fall noch gar nicht so alt. Falls sie denn noch lebt. "Dias" ist ein portugiesischer Name, und es liesse sich möglicherweise tatsächlich etwas herausfinden.
Aber 38 Jahre sind eine wahnsinnig lange Zeit, und ich meine, das ist Indien. Die Bürokratie in Indien tickt komplett anders als die in der Schweiz.

Ich weiss also so gut wie nichts bisher über sie. 
Nur den Namen, und dann eben noch diese eine wundervolle Tatsache, die Tatsache nämlich, dass sie mich die ersten fünf Monate meines Lebens gestillt hat. Diese wundersame Tatsache, dass sie da fünf Monate lang täglich zu mir kam, um mich mit ihrer Milch zu versorgen. Solange, bis sie mich weggeben musste.
Das ist mein Schatz. Etwas sehr Kostbares, 
diese fünf Monate habe ich vielen Adoptierten voraus, und mir ist bewusst, was für ein Geschenk das ist. So viele von uns wurden einfach ausgesetzt, abgegeben, weggegeben. 

Kennt ihr die Geschichte eures Lebensanfangs?

So viel Geheimnisvolles rankt sich um diesen Lebensanfang, der, meist in einem anderen, fernen Land stattgefunden, für die meisten von uns ziemlich im Dunkeln liegt. 




Alle Bilder: Abenddämmerung in Benaulim, Goa, Indien

Auch meine Mutter war, genau wie mein Vater, in gewisser Weise stets eine grosse Unbekannte, der einzige Unterschied stellten die spärlichen Informationen dar, die sie für mich etwas greifbarer, körperlicher, existenter machten. 

Ein zaghaftes Suchen begann Mitte Zwanzig, ein Annähern an diese kleine Frau ohne Gesicht. 
So oft habe ich mir ein Foto gewünscht, ein Brief, irgend etwas von ihr, einen kleinen Hinweis, einen kleinen Beweis für ihre Existenz. 
Doch genauso gut hätte es sein können, dass ebendieser Beweis die Sehnsucht ins Unermessliche gesteigert hätte, gerade so wie der einzige Liebesbrief eines Geliebten, der einen für immer verlassen hat.
Ich weiss es nicht.

Es ist wie es ist.


Nein, das ist nicht meine Mutter. Das sind verschiedene Schwestern, die damals im Kinderheim arbeiteten. Und ich als kleines Baby.
Ich weiss nicht ob ich dieses Foto veröffentlichen darf. Nur, wen könnte ich fragen? Wen um Erlaubnis bitten?




Letztendlich sorgte auch hier die Krise dafür, dass es mir endlich gelang eine innerliche Verbindung zu meiner Mutter Jennifer herzustellen. 

Einschub:
Yes! Bekommen wir langsam ein Gespür dafür, was eine Mörderkrise für ein Geschenk sein kann? Gerade für die Verarbeitung unseres Adoptionsthemas?
Bis zuletzt werden alle meine Leserinnen und Leser jede Krise mit offenen Armen freudig empfangen😄

Gut. Die eingangs erwähnte Therapeutin liess mich eine Art "Familienaufstellung" mit Stühlen machen; ich erinnere mich schon nurmehr undeutlich daran. Woran ich mich aber deutlich erinnere, ist das Gefühl, das mit dieser Übung einherging, und die Trauer, die mich übermannte. Nicht scharf und schneidend und übermächtig wie bei meinem Vater. Eher sehnsüchtig-warm, tief, wehmütig.
In dieser Sitzung übermannte es mich, und meine Therapeutin fragte mich
„Warum weinst du jetzt?“

Die Frage fand ich in dem Moment so seltsam.
Warum weint man wohl, wenn einem plötzlich fast physisch bewusst wird, dass man diese Liebe, diese Mutterliebe, die so überlebenswichtig ist, nie bewusst erfahren wird? Ich weinte um alles was nie sein würde. Um alles was ich entbehrt hatte all die Jahre, trotz meiner unendlich liebevollen Adoptivmutter, die ihr Bestes und Menschenmögliches gegeben hatte.
In dem Moment tröstete mich auch die Aussage, meine Mutter habe all ihre Liebe in meine ersten fünf Lebensmonate gepackt, wenig.
Ich war seit sechs Jahren selber Mutter, ich hatte zwei kleinen Mädchen das Leben geschenkt und sie beide fast zwei Jahre lang gestillt, ich wusste um Mutterliebe, GELEBTE Mutterliebe.

Meine Therapeutin riet mir dann, meiner Mutter einen realen Platz zu geben in meinem Leben, in Form eines Stellvertreterfotos. Diese Idee fand ich toll, rückte es doch etwas, was mir mein halbes Leben lang fast surreal vorgekommen war, in eine annehmbare und vor allem fassbare Realität. 
Doch es gestaltete sich schwieriger als gedacht. Ich sollte meiner Mutter einfach ein fremdes Gesicht geben?
Mit keinem dieser Fotos und Bilder, die ich heraussuchte, konnte ich mich so richtig identifizieren.

Bis heute ist es mir nicht gelungen, ein passendes Bild zu finden. Ich bleibe dran. Was jedoch seit jener Therapiesitzung passiert ist, ist das Phänomen, das sich ebenfalls bei meinem leiblichen Vater einstellte nach Verarbeitung seines Themas.
Ich kann sie fühlen in meinem Herzen. Sie und ich sind eins. Und ich fühle die unendliche Liebe, die sie in diese 5 Monate gepackt hat. Eine immense Liebe muss das sein, denn sonst wäre ich selbst nicht so liebesfähig.

Diese Liebe reicht für ein ganzes Leben! 

Dafür bin ich ihr unendlich dankbar.



Fotos Benaulim by SelinaDacy
Fotos Kinderheim, Schwestern mit Selina by B.C.

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